Mangel, Scham und Armwedeln

Griechische Regierung will mit neuem Sparpaket Merkel und Co. besänftigen – dem sichtbaren Absturz des Landes zum Trotz

  • Pepe Egger
  • Lesedauer: 6 Min.
Seit Februar 2010 wird in Griechenland die Krise mit Sparpaketen bekämpft, die von der Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds verordnet werden. Das Nächste steht vor der Tür, auch wenn der Erfolg bisher ausblieb. Im Gegenteil: Ihre Folgen sind jetzt schon verheerend.
In Athen gibt es dieser Tage keinen Aufruhr, keine wütenden Straßenschlachten. Ruhig ist es, vor dem Parlament formieren sich Touristengruppen, nicht Protestzüge. Auf den ersten Blick ist die Krise unsichtbar, die Demonstrationen und Streiks pausieren während des Sommers und über die jüngsten Sparmaßnahmen wird noch verhandelt.

Nikos Charalampopoulos, ein Athener Lehrer und ausgebildeter Politikwissenschaftler Anfang dreißig, wäre eigentlich voller Vorfreude auf seinen Sohn, der im September auf die Welt kommen soll. Doch die Sorgen über die ungewisse Zukunft stehen ihm ins Gesicht geschrieben. Er sieht seine Landsleute nach dem Sommer allein gelassen: »Die Kinder werden in Schulen zurückkehren, denen es an notwendigen Büchern fehlt; sie werden von Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet werden, deren Gehälter drastisch gekürzt wurden. Die Studierenden wissen, dass sie hart zu büffeln haben für einen Abschluss, der ihnen trotzdem keinen Job einbringt.« Der Regierung falle jeweils nur ein, noch mehr zu kürzen, noch mehr Entlassungen zu beschließen, Streiks niederzuschlagen und Jagd auf Ausländer zu machen.

An den Grenzen der Zumutbarkeit

Sechs Sparpakete seit Februar 2010 haben tiefe Spuren hinterlassen, und es mehren sich die Stimmen, die finden, dass die Grenzen der Zumutbarkeit erreicht sind. Trotzdem verhandelt die Regierung weiter, bis September müssen weitere Einsparungen beschlossen werden.

Es ist ein eingefahrenes Muster: Die griechische Regierung braucht Hilfe, um zahlungsfähig zu bleiben; die Troika von Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds verlangt im Gegenzug »Reformen«, also Sparmaßnahmen, denen sich die Regierung – allen Protesten zum Trotz – als alternativloser Medizin unterwirft.

Eine Generation ohne Perspektive

Der griechische Ökonom Yanis Varoufakis meint im Interview mit der britischen Tageszeitung »Guardian«, es sei ausgeschlossen, dass die Sparmaßnahmen die erwünschten Resultate bringen, und vergleicht sie mit jemandem, »der die Arme auf und ab bewegt, in der Hoffnung, die Schwerkraft zu überwinden«. Die Regierung fährt aber fort, die Bevölkerung kollektiv zum Armwedeln zu zwingen, und wird ihrerseits von der Troika dazu gezwungen: Bis zu 150 000 Beamte sollen bis 2015 entlassen werden, weitere Gehalts- und Pensionskürzungen stehen an. Sollte die Regierung dies im September beschließen, wird die Sommerruhe bald vergessen sein.

Die Aussichten für Nikos' Generation sind trübe: »Bis du 30 Jahre alt, bist du entweder arbeitslos oder in einem Betrieb, wo dein Gehalt gekürzt wird und deine Rechte missachtet werden, weil du froh sein musst, überhaupt irgendeine Arbeit zu haben.« Es sei nicht daran zu denken eine eigene Wohnung zu kaufen oder auch nur zu mieten. Gar eine Familie zu gründen, daran dächten nur die wenigsten. »Wenn du 40 bist und Kinder hast, bist du entweder arbeitslos oder hast einen zweiten oder dritten Job als Pizzabote, Reinigungskraft, Taxifahrer oder was auch immer, um deine Familie über Wasser zu halten. Daran, dein Leben zu genießen, denkst du nicht mehr; alle Skrupel, nicht schwarz zu arbeiten, hast du schon längst über Bord geworfen.«

Stelios (* Name von der Redaktion geändert), ebenfalls Anfang dreißig, kann sich glücklich schätzen, einen der wenigen gut bezahlten Arbeitsplätze zu haben. Er musste nicht einmal eine Lohnkürzung hinnehmen, weil sein Arbeitgeber eine ausländische Firma ist. Deswegen möchte er auch nicht mit seinem richtigen Namen in der Zeitung stehen, er will keinen Neid wecken. Von seinen Freunden haben manche die Arbeit verloren; mehrere waren noch in Ausbildung und haben jetzt keine Chance mehr, in den Arbeitsmarkt einzutreten. »Die sind am schlimmsten dran. Wenn ich mich mit ihnen treffe, schäme ich mich fast zu sagen, dass ich noch Arbeit habe und wie viel ich verdiene.«

Überall in Griechenland trifft man auf Scham: Bei denen, die nichts mehr haben und ihre Armut und Hilflosigkeit zu verbergen suchen, aber auch bei jenen, die noch arbeiten und verdienen und sich gegenüber den Freunden und Bekannten schuldig fühlen.

Die Kürzungen und Sparmaßnahmen findet auch Stelios nicht gerecht: »Mein Vater war 35 Jahre lang Briefträger und bekam eine gute Rente von ungefähr 1700 Euro. Davon hat man ihm nun 30 Prozent weggekürzt, er kriegt nur noch 1200. Und davon gehen jährlich noch mal 1500 Euro für die neu eingeführten Steuern für Wohnungsbesitzer drauf. Das ist doch illegal! Er hat die Rente sein Leben lang brav eingezahlt und jetzt, schwupps, weil die Troika es diktiert, sind mehr als 40 Prozent davon weg.«

Für Dr. George Kassimeris, einen politischen Kommentator aus Athen, hat selbst der Wahlerfolg der rechtsextremen Partei Chrysi Avgi (»Goldene Morgenröte«), die bei den Parlamentswahlen im Mai und Juni 2012 fast sieben Prozent der Stimmen erhielt, mit den Sparmaßnahmen zu tun: Die Polizei sei dem starken Anstieg der Kriminalität, verursacht durch Arbeitslosigkeit und Verelendung nicht gewachsen. Sie sei schon vor der Krise unterbezahlt gewesen und nun selbst von den Kürzungen betroffen. »Jetzt heuert man in den reichen Stadtvierteln private Sicherheitsfirmen an, um Einbrüchen vorzubeugen, und in den Arbeitervierteln bieten sich die Neonazis von Chrysi Avgi als ultrarechte Samariter an, die für Recht und Ordnung sorgen.«

Krise beflügelt Ausländerfeindlichkeit

In Athen zirkuliert dazu eine Geschichte, die den Aufstieg Chrysi Avgis zu erklären versucht. Eine Abwandlung davon erzählt Nina, eine junge Filmemacherin: Ihre Großmutter hatte eine kleine Wohnung an einen Herrn vermietet (der in den meisten Versionen der Geschichte natürlich auch Ausländer ist). Dieser Mieter brachte zuerst noch sieben andere Leute in die Wohnung und stellte dann die Mietzahlungen ein. Als die alte Dame sich nun Hilfe suchend an die Polizei wandte, teilte die ihr mit, dass sie leider machtlos sei. In der Not bot sich ein Vertreter der »Goldenen Morgenröte« an, der mit ein paar Parteigenossen die Bewohner prompt verjagte und die Wohnung gesäubert und frisch gestrichen an ihre rechtmäßige Besitzerin zurückgab.

Verzweiflung macht die Leute empfänglich für Hilfe, die sie vor der Krise niemals angenommen hätten; sie bereitet den Boden, auf dem die Ausländerfeindlichkeit gedeiht, und zehrt an der Kraft, Würde und Anstand zu bewahren.

Cristina Patzou war jahrzehntelang Redakteurin der traditionsreichen Tageszeitung »Eleftherotypia«, bis die vor einem Jahr in die Insolvenz schlitterte. Die Belegschaft versucht bis heute, ein Fortleben der Zeitung zu ermöglichen und Cristina hat dafür gekämpft. Sie kämpft immer noch mit Zähigkeit und Wärme, wenngleich ihr die Erschöpfung anzumerken ist. »Die Regierung sagt uns, wir sollen uns einschränken, aber für viele von uns heißt, mit weniger auszukommen, dass wir gar nichts mehr haben. Ich schäme mich, darüber zu sprechen, wie viele Dinge wir uns nicht mehr leisten können. Das ist keine ›Veränderung‹ mehr, es ist ein Absturz!«

»Wir müssen unser Leben neu erfinden«

Auf die Märkte in den Athener Vierteln gehen die Leute immer erst gegen Abend, wenn die Preise gesenkt werden. Väter und Mütter mit ihren Kindern fragen nach Gemüse oder Früchten, die faul sind oder sonst weggeworfen würden.

Was hilft da noch, angesichts all der Schwierigkeiten und Verzweiflung? »Familiäre Bindungen, Solidarität, Erfindungsgeist. Wir müssen unser Leben neu erfinden, um unsere Würde zu bewahren.« Cristina gibt nicht auf, wenn auch ihre Prognose düster ist: »Noch haben wir den Tiefpunkt nicht erreicht, wir sehen ja, wie die neue Regierung sich mit zerstörerischer Hingabe den gleichen neoliberalen Imperativen unterwirft, die das Land an den Abgrund gebracht und die Menschen ins Elend gestürzt haben.«

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.