Doping ist überall ein Thema
Fehlende finanzielle Mittel und Strukturen erschweren im Behindertensport den Kampf gegen Betrüger
Steffi Nerius erinnert sich gern an ihren ersten Apothekenbesuch in Freiheit. 2009 war sie Speerwurf-Weltmeisterin und Sportlerin des Jahres geworden, sie beendete ihre Laufbahn und konnte fortan zu jedem Erkältungsmittel greifen, auch wenn sich darin dopingrelevante Substanzen befanden. »Meine Sportler haben es da nicht so leicht«, sagte Nerius gestern auf einer Pressekonferenz in London. Sie betreut als Trainerin neun deutsche Leichtathleten bei den Paralympics. »Sie sind sehr vorsichtig und stellen viele Fragen. Am Anfang hatte ich darauf nicht immer eine Antwort.«
Mehr als 4200 Athleten aus 165 Ländern nehmen an den Paralympics teil, Einnahmen und Einschaltquoten werden in den kommenden elf Tagen Rekorde brechen. Wächst damit auch die Versuchung der Manipulation? Vor wenigen Wochen wurde die russische Leichtathletin Jelena Tschistilina für zwei Jahre gesperrt, die paralympische Silbermedaillengewinnerin über 100 Meter von Peking 2008 war bei den Europameisterschaften im Juni auf das Psychostimulans Nikethamid positiv getestet worden. Ein Einzelfall? »Doping ist überall ein Thema«, sagte Steffi Nerius.
Das Internationale Paralympische Komitee IPC hat für London 1250 Dopingkontrollen angekündigt. »Unsere Botschaft ist klar«, sagt Chris Holmes, Paralympics-Direktor in London. »Wer gedopt kommt und betrügen will, den finden wir.« Die Organisatoren wollen abschrecken, doch wie schon Olympia gezeigt hat, bedeutet eine hohe Kontrolldichte nicht zwangsläufig eine hohe Findungsrate. »Es ist sinnvoll, vor allem während der Trainingsphasen zu testen, nicht nur im Wettkampf«, so Mario Thevis von der Sporthochschule Köln.
1984 hatte es erstmals Kontrollen bei Paralympics gegeben, 2000 in Sydney wurden bereits 630 Tests durchgeführt, inzwischen hat sich die Zahl verdoppelt. 21 Athleten sind bei den vergangenen drei Sommer-Paralympics des Dopings überführt worden, 18 von ihnen im Gewichtheben. Sie hatten meist anabole Steroide für schnelleren Kraftzuwachs genutzt. Das mit höheren Kosten verbundene Blutdopingmittel Epo wurde noch nicht entdeckt. Nach Olympischen Spielen werden Proben acht Jahre aufbewahrt, für modernere Kontrollmethoden. Nach Paralympics wurden ausgewählte Proben nur wenige Monate gesichert, aus Kostengründen.
Die Kontrollmethoden seien noch ausbaufähig, wie alle Strukturen im Behindertensport, sagt Solveig Wörzberger, Referentin für Sportmedizin und Antidoping im Deutschen Behindertensportverband DBS: »Unsere Kaderathleten haben die gleichen Pflichten wie die Kaderathleten im Deutschen Olympischen Sportbund und auch die gleiche Verbotsliste.« Der DBS führt seit zwanzig Jahren Kontrollen durch, seit 2008 begleitet durch die Nationale Antidoping-Agentur NADA. Eine bemerkenswerte Zu- oder Abnahme von Dopingfällen ist nicht zu erkennen. 2010 und 2011 wurden jeweils zwei Sportler mit unerlaubten Mitteln ertappt. Lässt das System, das aus Kostengründen nur die Spitzenathleten regelmäßig kontrolliert, Missbrauch unentdeckt?
Allein 2011 konnten sieben Athleten ihre positiven Proben aufheben lassen: Ihnen waren Medikamente gestattet, die auf der Verbotsliste stehen. Die NADA hat daher ihre Partnerschaft mit der Bundesvereinigung deutscher Apothekerverbände erweitert und nun eine auf Antidoping-Fragen spezialisierte Apothekerin nach London geschickt. Laut einer Studie der Universität Münster ist Doping im Behindertensport vor allem ein Problem der Aufklärung. Daher setzt der DBS auf Prävention, verteilt Broschüren bei Wettkämpfen und organisiert Fortbildungen für Trainer.
Auch besondere Hilfestellungen, die Athleten benötigen, gewährt der DBS. Die Internet-Datenbank, die den Aufenthaltsort der Sportler für Kontrolleure speichert, ist für Blinde nicht zugänglich. Solveig Wörzberger ergänzt: »Einige Athleten können den Urin-Becher bei der Kontrolle nicht selbst halten. Sie haben das Recht auf eine Vertrauensperson, die sie dabei unterstützt.« Der DBS wird für sein Konzept belohnt, doch nicht mal ein Dutzend der 165 Teilnehmer-Länder kann sich einen vergleichbaren Apparat leisten. Auch daran zeigt sich, dass der Behindertensport noch nicht auf Augenhöhe angekommen ist.
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