In der Blutbahn
Verschwurbelt und poetisch: »Fernweh« in der Neuköllner Oper
Ursula rast auf der Suche nach Extremen wie besessen durch die Welt - Dorfurlaub bei Khmer-Familien, Dromedar-Safari durch die Wüste, Eistauchen am Nordpol. Nicht etwa, weil sie sich für fremde Kulturen interessiert - dieses Motiv wird fast entrüstet weggewischt -, sondern weil es ihr unterwegs gut geht. Das exakte Gegenteil dieses Reisewahns ist ihr Nachbar »Stubi« Stubenhocker aus dem 4. Stock: »Alles, was ich brauche, ist dieser Hinterhof - und sonst nichts.«
Und dann gibt’s noch die schicke Barbara, die nur noch virtuell per Google Street View Urlaub macht, aus Angst, zu wenig saubere Unterwäsche dabei oder den Gasherd nicht ausgeschaltet zu haben. Die Suche nach der eigenen Verortung, nach dem »Ich« im Gegensatz zum Fremden untersucht auf recht verschwurbelte, trotzdem poetische und originelle Weise das Live-Hörspiel »Fernweh. Aus dem Leben eines Stubenhockers« in der Neuköllner Oper. Musiktheaterregisseur Matthias Rebstock, Hörspielautor Hermann Bohlen und Komponist Michael Emanuel Bauer haben für diesen Abend Textfragmente, Dialoge und Auszüge aus Essays aneinandergestückelt und mit einer Geräusch- und Musikkulisse unterlegt, die mal nebenher plätschert, mal die Hauptrolle übernimmt.
Eine stringente Handlung darf man hier nicht erwarten, obwohl das die Bühne dominierende Hörstudio die äußere Klammer bildet, in der eine Vielzahl an Themen abgehandelt, manchmal auch nur gestreift werden. In einem der Studios entsteht ein Hörspiel über den Titel gebenden »Stubenhocker« oder eher über die als Sorge getarnte Neugier der Nachbarn auf den merkwürdigen Zeitgenossen: Ist er einsam? Depressiv? Gar psychotisch? Parallel werden im Nebenstudio Klavierlieder aufgenommen, dann geht noch ein Reisemagazin auf Sendung. Immer stärker verflechten sich die Ebenen, driften ins Reale, streifen Themen wie das Ich und die Abgrenzung vom anderen, Perspektiv- und Sichtwechsel sowie der Mensch als eigener Kosmos, bewohnt von Milliarden Bakterien, Viren, Mikroben.
Manchmal verheddern sich die Textpassagen, Teile kommen als unverdaulicher Brei daher. Doch bevor man abschaltet, ist da immer eine ungewöhnliche Szene oder ein witziger Dialog, der alles wieder in eine neue Richtung dreht. Dazu die Musik: Auszüge aus George Crumbs Liedzyklus »Apparition«, Klänge aus Franz Schuberts wunderbarer »Wandererfantasie« und Leonard Rosenmans Filmmusik zu »Fantastic Voyage« verdichten sich mit Alltagsgeräuschen und der Stimme der japanischen Sängerin Yuka Yanagihara zu einem mal nervenden, mal faszinierenden Sound. Die Musiker scheinen auf der mit Glaskabinen, Sofa und Mischpult bestückten Bühne ebenso zufällig verteilt, wie die Text- und Klangfragmente nebeneinander existieren.
Erst am Ende mündet die ungeordnete Collage in ein mitreißendes Science-Fiction-Musical: Die von den Nachbarn aufgebrochene Wohnung des Stubenhockers entpuppt sich als Falle, die beiden Frauen finden sich im Inneren eines auf Mikrobengröße geschrumpften U-Bootes wieder, das in eine menschliche Blutbahn injiziert wird. Zu David Bowies »Space Oddity« starren die in weiße Raumanzüge gehüllten Versuchsobjekte in einen schwarzen Raum, während farbige Blutpartikel auf die Leinwand projiziert werden. Ein stimmiger Schluss.
31. 8., 1./2., 6.-9., 13.-16., 20.-23.9., Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 31-133, Tel.: (030) 68 89 07 77
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