Es geht nicht mehr um Medaillen
Die Paralympics dienen Ex-Spitzensportlern ohne Behinderung nach Schicksalsschlägen als neue Motivation
Rennfahrer Alessandro Zanardi flog durch die Welt, wohnte in Luxushotels, traf Schönheitsköniginnen, ihm war das nicht unangenehm. Im September 2001 kollidierte der Italiener bei einem Champ-Car-Rennen auf dem Lausitzring mit einem anderen Wagen, sein Bolide zerbrach. Zanardi wurde wiederbelebt, siebenmal, oberhalb der Knie mussten beide Beine amputiert werden. Als er bei Bewusstsein war, dachte er an sein Ende.
Die Leichtathletin Ilke Wyludda hat früh gelernt, was Dominanz bedeutet. Kraftvoll drehte sie sich durch den Diskusring, 1996 gewann sie Olympisches Gold. Doch Wyludda hatte auch gelernt, was Schmerzen bedeuten, am Kreuzband, an der Achillessehne. Ende 2010 wollte eine Wunde am rechten Unterschenkel nicht verheilen. Die bakterielle Infektion drang bis zu den Knochen vor. Wyludda war in Lebensgefahr und stimmte einer Amputation zu.
Am Mittwoch haben in London die Paralympics begonnen, die Weltspiele der Sportler mit Behinderung. Die Eröffnungsfeier war farbenfroh, aber dezent; prägnant, aber hintergründig. Die Paralympics sind für die meisten der 4200 Teilnehmer die Krönung ihrer Laufbahn, doch die Paralympics können auch einen Neuanfang markieren. Wie bei Alessandro Zanardi, 45, wie bei Ilke Wyludda, 43. Sie sind die Grenzgänger zwischen den Sportwelten.
Zanardi lernte nach seinem Unfall mit Prothesen zu laufen, schnell merkte er, wie ihm die Gesetze des Sports fehlten, der Wettstreit, die Motivation, das Adrenalin. Er kehrte zurück in den Motorsport, gab mit der Hand Gas, gewann Sicherheit am Steuer. Er nahm an der Tourenwagen-Meisterschaft teil, gewann Rennen. Er zeigte Skeptikern, aber vor allem sich selbst: Die Bühne des Sports kann sich ändern, die Prinzipien des Sports bleiben gleich: »Das wichtigste ist die Leidenschaft«, sagt Zanardi. »Im Sport und überall im Leben.«
Zu den Gesetzen des Spitzensports gehört das frühe Altern, und so war es bald vorbei mit Motorsport für Alessandro Zanardi. Wieder fiel er in ein Loch, wieder fand er einen Ausweg: mit Hilfe des Handbikes, einer Art Rollstuhl, der durch die Oberarme bewegt wird. Zanardi nahm 2007 am Marathon in New York teil, spontan, und wurde Vierter. Er trainierte härter und länger, fuhr täglich 80 Kilometer. Die Zweifel schwanden: »Sport war immer eine Möglichkeit, mein Leben mit etwas Positivem zu bereichern.«
Nachdem Ilke Wyludda ihre sportliche Karriere Anfang des Jahrtausends beendet hatte, ließ sie ihren Körper erst mal in Ruhe. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Physiotherapeutin und studierte Medizin. Sie gründete eine Praxis und war als Anästhesistin eines Krankenhauses in Halle tätig. Dann kam die Amputation, und das Gefühl, nicht mehr alles im Griff zu haben. Ende 2011 nahm sie wieder einen Diskus in die Hand, sie warf fortan im Sitzen, auf der rechten Seite festgeschnallt an einen Hocker. Sie genoss den Muskelkater, doch es ging ihr nicht um das Fernziel Medaille, sie wollte fit werden für den Alltag im Rollstuhl. Sie sagt, sie sei nun bei 80 Prozent ihres früheren, ihres olympischen Trainingspensums: »Durch den Sport geht es mir besser«, betont sie.
Der Handbiker Zanardi wird bei den Paralympics in drei Wettbewerben starten: im Einzel, Team und Zeitfahren, die Leichtathletin Ilke Wyludda tritt im Diskuswerfen und Kugelstoßen an. Beide gehören nicht zu den Medaillenfavoriten, beide haben erfahren, dass es darauf nicht wirklich ankommt im Sport. Sie haben die Welten für nichtbehinderte und behinderte Sportler kennengelernt, und sie haben gelernt, dass die Erfordernisse die gleichen sind, bloß unter anderen Umständen, dass sie Willenskraft brauchen, Ausdauer, Neugier. Vor dem Hintergrund, dass die Vereinten Nationen Inklusion verlangen, Teilhabe für Menschen mit Behinderung, ist das ein wertvolles Signal.
Die paralympische Welt profitiere von ihren neuen Fürsprechern, sagt Ronny Ziesmer, der ja selbst zu ihnen gehört. »Meist sind Leute erst dann für das Thema sensibilisiert, wenn sie in ihrem eigenen Umfeld auf Menschen mit Behinderung treffen.« Ziesmer hatte sich auf die Turnwettbewerbe der Olympischen Spiele 2004 vorbereitet, als er im Trainingslager bei einem Rückwärtssalto stürzte, seitdem ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Ziesmer hat danach Biotechnologie studiert und Spenden für Forschungsprojekte gesammelt. Er wollte den Sport nicht missen und nahm im Handbike an Marathonrennen teil.
Die Paralympics in London kommen für ihn zu früh, nicht aber die in Rio de Janeiro 2016. »Das Handbike war immer ein Stück Rehabilitation für mich. Es soll wieder mehr um Leistung gehen.« Ziesmer will sich selbst etwas beweisen. Wenn andere dabei zuschauen und etwas lernen, hat er nichts dagegen.
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