Im Schatten der "Vernunftehe"

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 4 Min.
Es soll an dieser Stelle um Koalitionen gehen, aber zuerst muss eine kleine Anekdote erzählt werden: Gestern veröffentlichte der Stern die neuesten Zahlen der wöchentlichen Forsa-Umfrage. Weil es dabei nicht bloß um demoskopisches Interesse geht, sondern auch um Schlagzeilenproduktion, meldete das Magazin wie üblich vorab: Die Liberalen seien wieder unter fünf Prozent gefallen, die Piraten hätten sich stabilisiert, hieß es da. „Die drei größten Parteien" - gemeint sind CDU, SPD und Grüne - seien ohne Veränderung im Vergleich zur Vorwoche geblieben, auf Sonstige würden fünf Prozent entfallen.

Und die Linkspartei? Die hatte man in der nachrichtenproduzierenden Vorabmeldung schlicht vergessen. Nun wird man nicht gleich Absicht unterstellen müssen, ein Kollege von stern.de entschuldigte sich via Twitter und lieferte das Ergebnis der LINKEN, dass man zum Beispiel hier nicht vergessen hatte, nach: Die Partei kommt erneut auf acht Prozent. Und irgendwann hatte man es dann auch geschafft, die Zahl in der Meldung auf stern.de nachzutragen. Die kleine Geschichte ist deshalb nicht uninteressant, weil die Wahlumfragen - bei aller berechtigten Kritik - wichtige Taktgeber der politischen Debatte sind. Über die Strategie der SPD zum Beispiel ließe sich nicht gut diskutieren, wenn unbekannt wäre, dass es für die von den Sozialdemokraten favorisierte Koalition mutmaßlich keine Wählermehrheit gibt.

Sahra Wagenknecht hat der SPD deshalb jetzt Unehrlichkeit vorgeworfen. Glaubwürdig könnten die Sozialdemokraten ihre Ziele etwa bei der Bankenregulierung und für mehr soziale Gerechtigkeit gar nicht verfolgen. Denn: „Die SPD hat kategorisch ausgeschlossen, mit uns zu regieren. Solange das so bleibt, ist das Linksblinken von Gabriel und Co. reine Wählertäuschung." Was die SPD ankündige, zum Beispiel auch eine Vermögenssteuer und einen gesetzlichen Mindestlohn, werde sie mit CDU oder FDP nicht umsetzen können. „Mit uns schon", wird die Partei- und Fraktionsvize in der "Saarbrücker Zeitung" zitiert. Eine Zusammenarbeit lehnen die Spitzen von SPD und Grünen bekanntlich ab. Die sozialdemokratischen Linken halten dagegen: Juso-Chef Sascha Vogt hat „schon immer ein Problem mit Ausschließeritis". Und auch die Sprecherin von DL21, Hilde Mattheis, warnt: „Die SPD darf keine Koalition ausschließen". Am Wahlabend, wird die Bundestagsabgeordnete in der "Leipziger Volkszeitung" zitiert, müsse „man sehen und entscheiden, je nachdem wie die Wähler entschieden haben".

Zurzeit steht Rot-Grün in den Umfragen zwischen 44 Prozent bei Allensbach und 38 Prozent bei Forsa. Die Spitzen beider Parteien werden nicht müde, ihre Wunschkoalition dennoch als realistisches Ziel auszugeben. Und ja: Bis zu einer regulären Bundestagswahl ist auch noch ein Jahr Zeit. Aber von Wechselstimmung kann so wenig die Rede sein wie von einer verbreiteten Siegesgewissheit was die Sozialdemokraten angeht: „Nur 38 Prozent der SPD-Wähler sind von einem Sieg überzeugt", heißt es bei stern.de. „Dagegen schätzen 53 Prozent die CDU als uneinholbar ein." Und auch wenn 40 Prozent der Befragten hoffen, dass das ungeliebte Schwarz-Gelb von einer rot-grünen Regierung abgelöst wird; finden sich für eine große Koalition mit 39 Prozent fast genauso viel Anhänger. (siehe auch hier Zahlen aus dem Politbarometer)

Wenn stern.de mit Blick auf eine schwarz-rote Variante von einer „Vernunftehe" spricht, ist das natürlich alles andere als vernünftig. Aber es gehört zu einem Sound, der die Frage nach anderen Bündnisoptionen in der Bundespolitik als eine abseitige dastehen lässt. Das ist durchaus gewollt - und es führt dazu, dass die Diskussion über die Grenzen, absehbaren Schwächen und Chancen eines Mitte-Links-Bündnisses gar nicht erst groß aufkommt. Natürlich, in ein paar Netzwerken wird weiter über reformpolitische Strategien diskutiert. Aber als gesellschaftliches Gespräch, bei dem nicht die Frage des „besseren Regierens" im Vordergrund steht, sondern die nach einer anderen Politik, findet Rot-Rot-Grün im Prinzip kaum statt. Und wem das zu parlamentarisch-parteienfixiert ist: Als Gespräch über gesellschaftliche Alternativen jenseits machtpolitischer Tellerränder, über eine alternative Hegemonie und alltäglichen Widerstand gegen die Zumutungen des real existsierenden Kapitalisus oder über Veränderung, die von unten wächst, auch nicht.

Da ist es dann auch kein Wunder, wenn in einer Vorabmeldung zu einer Umfrage die Linkspartei vergessen wird.
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