Die Entscheidung des Bundesratspräsidenten über die Wertung der Stimmen Brandenburgs am 22. März war machtpolitisch bestimmt. Die der Mehrheit des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat - womöglich weit reichende - machtpolitische Folgen, wurde aber von den Richtern rein juristisch begründet. Indirekt übten sie aber damit scharfe Kritik an politischen Inszenierungen.
Die Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz am 22. März dieses Jahres im Bundesrat (siehe rechte Spalte) war zwar kabarettreif, doch von den vier Stimmen Brandenburgs hing aber ab, ob die für die nötige Zustimmung der Länderkammer erforderliche Mehrheit von 35 Stimmen zu Stande kommt. Der damalige Ministerpräsident Manfred Stolpe erhielt daher von Bundeskanzler und SPD-Chef Gerhard Schröder den »Parteiauftrag«, dafür zu sorgen. Angesichts des beginnenden Bundestagswahlkampfs war aber Vize-Ministerpräsident Jörg Schönbohm von den Spitzen der Unionsparteien klar gemacht worden, dass er dem nicht zustimmen darf. Da beide erklärtermaßen keinen Bruch der Koalition riskieren wollten, suchten sie nach einer »Lösung«. Die wurde nach der unüberhörbar uneinheitlichen Stimmabgabe durch die Minister Alwin Ziel und Schönbohm vom amtierenden Bundesratspräsidenten, Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, durch jene »Nachfrage« bei Stolpe zelebriert, die gestern von der Mehrheit der Verfassungsrichter nicht nur für unnötig, sondern für unzulässig erklärt wurde.
Dass dies offenkundig eine politische Inszenierung war, die der saarländische Ministerpräsident Peter Müller sogar für die Proteste seitens der CDU- und CSU-Vertreter im Bundesrat einräumte, mag die Verfassungsrichter als politisch interessierte Bürger empört und vielleicht gar beeinflusst haben, entscheidend für ihr Votum war es nicht. Das Urteil der Senatsmehrheit - ob es fünf oder sechs Richter waren, wurde ausdrücklich nicht mitgeteilt - kam freilich nicht überraschend. Es geht dabei ausdrücklich nicht um Gegenstand und Inhalt des umstrittenen Gesetzes, sondern allein um die Auslegung, was jener 2. Satz von Abschnitt 3 des Grundgesetzartikels 51 in diesem konkreten Fall, aber auch generell bedeutet: »Die Stimmen eines Landes können nur einheitlich... abgegeben werden.«
Praktisch stellt sich das Problem ohnehin nur bei Koalitionsregierungen, deren Partner in bestimmten Fragen unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten haben. Üblich ist in solchen Fällen Stimmenthaltung. In manchen Ländern ist auch ein alternierendes »Recht des letzten Wortes« der Partner oder gar ein Losentscheid vorgesehen. Von einer Ausnahme gleich kurz nach Gründung der Bundesrepublik abgesehen, erfolgte aber bis zu jenem 22. März die Stimmabgabe im Bundesrat immer einheitlich. Der kleinere Partner beugte sich entweder zähneknirschend, aber schweigend, oder »glänzte« durch Abwesenheit.
In diesem Falle hofften offenbar zumindest die beiden Hauptakteure auf Seiten der SPD, die Grundgesetz-Klippe dadurch zu umschiffen, dass dem Ministerpräsidenten die »Stimmführerschaft« zugesprochen wurde. Diese Auffassung wurde sogar von etlichen Staatsrechtlern gestützt. Die Bundesverfassungsrechtler widersprechen dem nur in einem, allerdings entscheidenden Punkt. Anders als im Landeskabinett ist der Regierungschef im Bundesrat gegenüber den anderen Mitgliedern seines Bundeslandes nicht weisungsberechtigt: Jedes von ihnen kann dem »Stimmführer« jederzeit widersprechen, wodurch die im Grundgesetz geforderte einheitliche Stimmabgabe verhindert wird.
Das geschah im fraglichen Fall zwar nur im ersten Anlauf, aber eindeutig: Schönbohm widersprach dem »Ja« seines Kabinettskollegen Alwin Ziel (SPD) durch ein ebenso deutliches »Nein«. Doch auf die sich anschließende Rückfrage Wowereits an Stolpe, die der mit einem gedrechselten Satz letztlich nur für sich selbst - »als Ministerpräsident... erkläre ich hiermit Ja« - beantwortete, sagte Schönbohm ungefragt zu Wowereit: »Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident!«.
Im Urteil heißt es daher unter Verweis auf die vorangegangene Debatte im Bundesrat, in der Schönbohm bereits sein Nein angekündigt hatte: »Der Wille des Landes Brandenburg zur uneinheitlichen Abstimmung lag klar zu Tage.« Redebeiträge und »die sorgsame rechtliche Vorbereitung der Beteiligten belegen, dass ein einheitlicher politischer Landeswille weder vor der Bundesratssitzung festgelegt war, noch im Verlauf der Sitzung erwartet wurde - es bestand Klarheit über den Dissens...« Pflicht des Bundesratspräsidenten sei es daher nur gewesen, »dies zu protokollieren«. Stattdessen habe er den Anschein erweckt, »es gelte nunmehr, den "wahren Landeswillen" festzustellen oder doch noch auf eine Einheitlichkeit der Stimmenabgabe hinzuwirken«. Dazu aber sei er im konkreten Falle »nicht befugt« gewesen. Und falls er ein Recht auf Nachfrage gehabt hätte, dann hätte er auch bei Schönbohm nachfragen müssen. Der hätte dann letztlich definitiv Ja oder Nein sagen müssen. Dann wäre freilich die Inszenierung geplatzt...
Genau an diesem offenbar zuvor bis ins Detail verabredeten Verhalten knüpfen die Verfassungsrichterinnen Lerke Osterloh und Gertrude Lübbe-Wolff ihre schriftlich bekundete »Abweichende Meinung«, dass zwar »Brandenburg zunächst nicht einheitlich abgestimmt hat«, es dabei »aber nicht geblieben« sei, da der Ministerpräsident in einem »zweiten Durchgang« mit Ja gestimmt. Minister Schönbohm dem aber »keine klar als Stimmabgabe identifizierbare Äußerung mehr entgegengesetzt« habe. Es sei »nötig, deutlich zwischen Meinungsäußerung und Stimmabgabe zu unterscheiden«, sagte Frau Lübbe-Wolff zur Begründung während der Urteilsverkündung. »Sonst wäre des Deutens kein Ende mehr.«
Äußerst pointiert legten auch Senatsvorsitzender Winfried Hassemer und Berichterstatter Udo Di Fabio im Karlsruher Verhandlungssaal die Mehrheitsansicht dar. »Der Text des Urteils ist sehr dicht«, betonte Hassemer. »Es kommt auf jedes Wort an.« Nicht nur Juristen, auch Politiker dürften es daher genau analysieren.
Die SPD sei mit ihren »politischen Taschenspielertricks« in Karlsruhe durchgefallen, erklärte gestern die innen- und rechtspolitische Sprecherin des Parteivorstandes der PDS, Dr. Evelyn Kenzler. Erwartungsgemäß habe sich das Gericht »nicht von dem politisch inszenierten Verwirrspiel, an dem die CDU ihren Anteil hat, irritieren lassen«. Es sei aber »beschämend«, dass »diesem unrühmlichen politischen Spektakel« juristisch ein Ende gesetzt werden musste.