Unbequeme Wahrheit

Die Vertreibungen aus dem Sudetenland begannen schon 1938

  • Klaus Hemmo
  • Lesedauer: 6 Min.
Es ist Tradition. Jedes Jahr zu Pfingsten veranstalten Landsmannschaften der Vertriebenen ihre Treffen. Der bevorstehende »Sudetendeutsche Tag« sei hier Anlass für einen aktuell-historischen Rückblick.
Im vergangenen Jahr sprach als Vertreter der Bundesregierung Innenminister Otto Schily vor den Sudetendeutschen. Er hatte den Mut, in seine Rede den Satz einzufügen: »Übrigens waren die ersten Vertriebenen nicht Deutsche, sondern Tschechen und Juden.« In die daraufhin sofort einsetzenden lautstarken Proteste hinein rief er: »Das müssen Sie schon ertragen!« Gerade das aber können - besser wohl wollen - einige Funktionäre der Vertriebenen-Verbände nicht. Sie versuchen immer wieder, die Vertreibung von den Ereignissen nach den Münchener Abkommen und den massenmörderischen Verlauf des Zweiten Weltkrieges losgelöst darzustellen. Vergessen und verdrängt ist, dass alle Deutschen, die Hitler gewählt haben - die Sudetendeutschen mit 98,8 Prozent - und später gefolgt sind, Mitverantwortung tragen. Vergangenes Jahr ging also die historische Wahrheit im Johlen und Pfeifen unter. Werden auch dieses Jahr wieder geschichtliche Tatsachen geleugnet? Nach dem Einmarsch der Wehrmacht 1938 waren mehr als 170000 Tschechen und Juden aus ihrer Heimat, zuerst aus dem Sudetenland, vertrieben oder in die KZ verschleppt worden bzw. mussten vor den Nazis flüchten. Dr. Pavel Machácek, Sekretär des »Kreises tschechischer Bürger, die 1938 von Deutschen aus den Grenzgebieten gejagt worden sind«, und ehemaliger Häftling des KZ Flossenbürg, kann nicht verstehen, dass es in Deutschland immer noch Menschen gibt, die solche Fakten schlichtweg ignorieren. Seine 1993 gegründete Organisation zählt 1320 Mitglieder und versteht sich nicht nur als Interessenvertreter der Opfer deutscher Okkupanten und ihrer Helfershelfer. Sie wollen Erfahrungen und Erlebnisse von Tschechen nach dem Münchner Abkommen bewahren, verbreiten, nachfolgenden Generationen hinterlassen. Nur so seien dauerhaft Aussöhnung und Verständigung zwischen dem tschechischen und deutschen Volk möglich. Dr. Máchacek übergab mir einige Bücher, die seine Organisation zum Thema publiziert hat. Darunter sind auch zwei Bände »Erinnerungen«, zwei unscheinbare Bücher, ohne Titelbild, einfarbig und kartoniert - doch sie haben es in sich. 319 Tschechen schildern, was ihnen 1938/39 widerfahren ist, nachdem ihre Heimat zum »Mustergau Sudetenland« umfunktioniert worden war. Sie sind gewissermaßen Kronzeugen für das, worauf Minister Schily auf dem Sudetendeutschen Tag 2002 hingewiesen hatte und was dort keiner hören wollte. Jaroslav Rehak, damals in Trutnov wohnhaft, erinnert sich: »Hier bleiben und mit den Nazis sympathisieren oder abhauen, das war die Frage. Zum Abhauen sind wir aber gar nicht gekommen. Wir wurden ausgewiesen. Wir mussten einen Sonderzug besteigen, der extra für die Abschiebung bereitgestellt worden war.« Bohuslava Novakova, damals in Bilina lebend, berichtet: »Mein Vater war von der Gestapo verhaftet worden. Am 31. Dezember 1938 wurde er um 9 Uhr in Bilina wieder aus der Haft entlassen mit der Auflage, bis 12 Uhr das "Reichsgebiet" zu verlassen. Meine Eltern mussten mit leeren Händen über die Grenze. Sie konnten nichts mitnehmen.« Vlastimil Rambousek aus Hrdlovka bei Duchcov klagt an: »Mein Vater war gerade von der tschechoslowakischen Armee demobilisiert nach Hause gekommen, da wurde er schon verhaftet. Dabei hat ihn der Henlein-Anhänger Karl Wolf brutal misshandelt. Meine Mutter, ich und mein jüngerer Bruder wurden von der Gemeindeverwaltung aufgefordert, das Sudetengebiet innerhalb von 48 Stunden zu verlassen.« Ein ehemaliger Bürger aus Hostonice bei Bilina gibt zu Protokoll: »In unserer Gemeinde verhafteten die Deutschen sechs Männer, es können auch mehr gewesen sein, aber an die sechs erinnere ich mich genau. Alle sind in ein KZ gebracht worden. Zu unserem Haus kamen die Deutschen später, in der Nacht vom 14. zum 15. März 1939, eine ganze Horde von SA-Männern. Mit der Axt schlugen sie die Haustür und die Fenster unten ein. Den Hausherren verprügelten sie und traten ihn schließlich solange, bis er bewusstlos war. Dann kamen sie die Treppe herauf. Wer sich nicht auf dem Dachboden verstecken oder aus dem Fenster springen konnte, wurde zusammengeschlagen.« Machte die Henlein-SA, der so genannte Freiwillige Schutzdienst, solche »Hausbesuche« bei jüdischen Familien, kam niemand nur mit blauen Flecken und Rippenbrüchen davon. Zusammenschlagen und dann ab ins KZ, das war die Devise. Nur einem kleinen Teil der etwa 20000 Juden, die in den Grenzgebieten lebten, gelang es, noch rechtzeitig zu fliehen. Der Mehrzahl stand der Weg in die Konzentrations- und später in die Vernichtungslager bevor. Bereits im November 1938 lebten nur noch etwa 1500 Juden im Sudetenland. Und bald feierten die Nazis Warnsdorf und Komotau als erste »judenfreie Städte« des »Mustergaus Sudetenland«. Doch nicht nur die Juden im »böhmisch-mährischen Raum« wurden Opfer brutaler Besatzungspolitik. Nach dem von Himmler 1941 vorgelegten »Generalplan Ost« sollten auch die Slawen verschwinden, in den Osten umgesiedelt werden bzw. im neuen Großreich als Arbeitssklaven ausgebeutet werden. »Knechtsvolk« nannten auch die Henlein-Faschisten ihre tschechischen Nachbarn. Von Haus und Hof wollten sie diese jagen - und taten es. Jan Bernasek aus Pesovice bei Chomutov erzählt: »1939 haben die Deutschen unseren Bauernhof enteignet, ohne jede Entschädigung. Wir verloren alles, was sich meine Eltern mühevoll erarbeitet hatten. Nicht nur den Hof und die Äcker, auch die Maschinen und Vorräte. Als wir ausgewiesen wurden, durften wir nichts mitnehmen. Später haben wir erfahren, dass die deutsche Ansiedlungsgesellschaft den Hof einem deutschen Bauern übergeben hat.« Jener »Ansiedler«, vermutet Bernasek, war wohl ein Südtiroler. Südtirol war auf der Friedenskonferenz von St. Germain 1919 Italien zugeordnet worden. Die zunehmende Faschisierung nach Mussolinis »Marsch auf Rom« führte zu starken nationalen Spannungen. Die Mehrheit der Südtiroler wollte »Heim ins Reich«. Rom und Berlin schlossen 1941 ein Abkommen zur Umsiedlung von 75000 Südtirolern. Die Bauern sollten helfen, den okkupierten »böhmisch-mährischen Raum« einzudeutschen. Der Krieg erschwerte die Umsetzung des Vorhabens, zudem zeigten die Bauern keine große Neigung, ihre »alte Scholle« zu verlassen. Trotz aller Anstrengungen der »Ansiedlungsgesellschaft« konnten nur wenige Bauern überredet werden. Von den 14 Bauern aus Natz, einem Dorf im Pustertal, entschloss sich nur einer zum Umzug, wie ich im heutigen Ferienort erfuhr. Er hatte seinen Hof verkauft und verlor nach dem Krieg auch den neuen, ihm von den deutschen Geopolitikern im Sudetenland zugewiesenen. Unbestreitbar, die wilden Vertreibungen der Sudetendeutschen ab Mai 1945 sind kein Ruhmesblatt tschechischer Geschichte. Es kam zu Ausschreitungen und Mord (Aussiger Elbbrücke, Brünner Todesmarsch). Tschechische Politiker weichen oft aus, wenn die Sprache auf die Art und Weise der Vertreibung der Sudetendeutschen kommt. Doch jeder sollte vor seiner eigenen Haustür kehren. Und da ist in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nach wie vor großes Unbehagen zu spüren, sich kritisch mit den Ereignissen am Vorabend des Zweiten Weltkrieges auseinander zu setzen. In nahezu allen Publikationen zur Geschichte unserer Nachbarn sucht man vergeblich einen Hinweis darauf, dass die Vertreibungen aus dem Sudetenland schon 1938 begannen - mit der Ausweisung von Tschechen und Juden. Warum hat der »Kreis tschechischer Bürger, die 1938 aus den Grenzgebieten ausgewiesen wurden«, trotz jahrelanger Bemühungen bis heute noch keinen deutschen Verlag gefunden, der bereit wäre, zwei Bücher seines Vorsitzenden, des Historikers Dr. Vaclav Kurala, zur Thematik zu übernehmen, obwohl sie bereits ins Deutsche übersetzt worden sind? Man könne sie nicht auf den deutschen Buchmarkt bringen, hieß es in der Absage eines der angesprochenen Verlage, weil man fürchte, die Sudetendeutsche Landsmannschaft würde Schwierigkeiten machen, die sich dann auch wirtschaftlich auswirken könnten. Am 1. April dieses Jahres kam es in der tschechischen Hauptstadt zu einer Protestaktion vor dem wenige Tage zuvor in Prag eröffneten Büro der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Ist es nicht verständlich, dass Tschechen (siehe Foto) empfindlich reagieren?

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