Kollektivbestrafung verstößt gegen das Grundgesetz
Bundessozialgericht traf wichtige Vorentscheidung gegen Rentenstrafrecht / Verfassungsgericht angerufen
dem Kläger durch einen materiell bestandskräftig (§77 SGG) gewordenen Bescheid vom 27 März 1991 auch konkret verbindlich anerkannt worden war Es hätte eines verfassungsgemäßen Gesetzes bedurft, Einschränkungen einer solchen Rechtsposition zu regeln.
2. „Dieser im Sozialrecht begründete Anspruch genoß darüber hinaus den grundrechtlichen Schutz des Art. 14 Abs. 1 Regelung 1 GG.“
Diese Aussage begründet das BSG vor allem damit, daß der Bundesgesetzgeber auch gegenüber den ehemaligen DDR-Bürgern an deren (Menschen- und) Grundrechte gebunden war (Art. 1 Abs. 3 GG) und die Überführung der in der DDR entstandenen Rentenansprüche von vornherein verfassungsgemäß, insbesondere grundrechtsgemäß vornehmen mußte. Durch Bundesgesetz zum Einigungsvertrag sei eine Entscheidung i.S. von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Regelung 11 GG getroffen worden, daß auch die im Sonderversorgungssystem des MfS erworbenen Rentenansprüche in eine SGB-VI-Ren-
te umgewandelt werden. Wenn es auch geboten war, dabei ggf. ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen, überhöhte Leistungen abzubauen und Besserstellungen gegenüber vergleichbaren Ansprüchen aus anderen öffentlichen Versorgungssystemen zu vermeiden, so durfte durch diese „zukunftsorientierte Systementscheidung“, das Prinzip der politisch-moralischen Neutralität des Rentenrechs nicht durchbrochen werden.
3. Auch die sogenannte Zahlbetragsgarantie, die für Bestandrentner und rentennahe Jahrgänge galt, war durch diese „Systementscheidung“ begründet. Der Bundesgesetzgeber hat - so die Auffassung des BSG - also ganz bewußt entschieden, daß den Rentnern dieser Betrag auch dann ungeschmälert erhalten bleiben soll, wenn er über dem Höchstbetrag der künftigen SGB-VI-Rente liegt. Gleichfalls war entschieden, daß die in DDR-Versorgungssystemen erworbenen Ansprüche letztlich aus Steuermitteln finanziert werden mußten, soweit die Einnahmen und das wirtschaftlich
verwertbare Vermögen der Versorgungssysteme hierfür nicht ausreichten.
4. Die Vorschrift des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr 1 AAÜG „ist (mindestens) deshalb verfassungswidrig, weil sie kein verfassungsgemäßes öffentliches Interesse verfolgt“, das eine Beschränkung rechtfertigt, die nach Meinung des BSG besonders einschneidend ist, weil der ohnehin niedrige Ausgangswert von 990 DM um ein Fünftel gesenkt wird.
In der Begründung des Beschlusses wird festgestellt, daß aus den Gesetzesmaterialien nicht erkennbar ist, welcher verfassungsgemäße öffentliche Belang den Eingriff legitimieren würde. Soweit beabsichtigt gewesen sein sollte, „Täter“ zu treffen, die das Regime durch Unrechtstaten unterstützt haben, so wäre dies eine strafrechtsähnliche Sanktion und daher rechtsstaatwidrig. Die Unschuldsvermutung verlange den rechtskräftigen Nachweis der Schuld, bevor diese dem Verurteilten im Rechtsverkehr vorgehalten werden darf. Grundrechtswidrig wäre dabei
auch die einem Rechtsstaat fremde Kollektivbestrafung.
5. Im Beschluß des BSG wird weiter festgestellt, daß sich seit dem Einigungsvertragsgesetz die objektiven Verhältnisse nicht geändert haben. Ferner sei nicht erkennbar, daß der Bundesgesetzgeber über die tatsächlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen und Folgen der Zahlbetragsgarantie im Irrtum' gewesen wäre.
„Soweit in den Materialien gesagt wird, § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AAÜG (vor allem aber §§ 6, 7 a.a.O., die das BSG... im vorliegenden Fall nicht anzuwenden hat) diene der Beseitigung von .Privilegien' und .politischen Vergünstigungen', ist das im positiven Gesetzesrecht nicht nachvollziehbar “ Eine Rücknahme von im Einzelfall rechtswidrig zuerkannten Versorgungsansprüchen sei zwar ein legitimer Zweck rechtsstaatlicher Normen, soweit Vertrauensschutz nicht entgegensteht. Das werde aber mit der genannten Vorschrift nicht geregelt. Sie ordnet vielmehr die Kappung aller Ansprüche auf Zahlbeträge über
802 DM an, also auch solcher, die rechtmäßig erworben und bundesgesetzlich anerkannt waren. Das ist rechtstaatlich verboten.
In diesem Zusammenhang wird festgestellt, daß der Abbau von Sondervorteilen bei der MfS-Versorgung bereits durch die DDR nachhaltig erfolgt war. Der Bundesgesetzgeber habe dies mit dem Einigungsvertragsgesetz als hinreichend betrachtet und eine „Zahlbetragsgarantie“ von 990 DM festgelegt, die keine einheitssozialistische „Privilegierung“ oder „politische Vergünstigung“ mehr darstelle.
Der 4. Senat des BSG kommt zu dem Schluß, daß „§ 10 AA-ÜG n.F ...nur den politischen Willen (verdeutlicht), einem Teil der Zusatz-oder Sonderversorgungsberechtigten den ihnen bundesrechtlich gewährleisteten Gesamtanspruch teilweise zu entziehen.“ Durch § 10 AAÜG würde das Prinzip der „politisch-moralischen Neutralität der Rentenversicherung“ nicht etwa allgemein aufgehoben, wohl aber punktuell und selektiv durchbrochen. Die Kappung diene
ausschließlich der politischen Selbstkorrektur des Bundesgesetzgebers, der in bundesrechtlich zuerkannte und individuell konkretisierte (und darüber hinaus eigentumsrechtlich geschützte) Rechtsansprüche ohne erkennbaren verfassungsgemäßen öffentlichen Belang eingreift. Nach all dem sei eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift nicht möglich.
Obwohl die Regelungen der §§6 und 7 AAÜG, die rechtmäßig erworbene Ansprüche von sog. „staatsnahen“ Versicherten auf Dauer begrenzen, nicht Gegenstand des Urteils waren, geht dessen Bedeutung doch weit über den konkreten Einzelfall hinaus. Die vom BSG zu § 10 Abs. 2 AAÜG dargelegten Gründe und Argumente treffen zumindest teilweise auch für die §§6 Abs. 2 und 3 und 7 AAÜG zu. Auch bei den sogenannten Professorenrenten, die durch § 10 Abs. 1 AA-ÜF n.F eine Kürzung auf 2 700 DM erfuhren, ist der politische Wille zur Selbstkorrektur nach Auffassung des BSG jetzt eindeutig, ein verfassungsgemäßer Zweck aber nicht ersichtlich.
Man darf hoffen, daß die Rentner die längst fällige Beseitigung des politischen Rentenstrafrechts noch erleben.
ERICH BRAUNERT
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