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  • Kultur
  • Verdis „Don Carlos“ in imponierender Neueinstudierung

Glanz und Elend in Neustrelitz

  • Lesedauer: 4 Min.

an «ihrer Statt nicht nur beträchtliche künstlerische Probleme bringen wird, sondern obendrein auch noch den Gesamtetat des Theaters vo'n rund 16 Millionen Mark erheblich belastet. Nach der Rechnung des Orchesters könnte das Haus bei vernünftiger Spielplan- und Personalpolitik mit 11 Millionen auskommen - und das eigene Orchester behalten. Sie fanden kein Gehör, nicht beim Intendanten, nicht bei der Schweriner Landesregierung.

Aber sie sitzen im Orchestergraben und spielen. Um ihr Leben, wenn man so will. Wenige Wochen vor Inkrafttreten der Kündigung sorgten sie für eine beträchtliche Sensation: Mit einer Neuinszenierung von Verdis „Don Carlos“ nach Schiller, jener grandiosen

Oper, die auch für große Häuser ein harter Brocken ist, mit enormem szenischem Aufwand, viel Chor, hohen Ansprüchen an die Solisten und an eine überzeugende Regie.

Verdis „Don Carlos“ konzentriert das Geschehen im erzkatholischen Spanien des 16. Jahrhunderts unter Philipp II. auf die menschliche Tragödie mit hochpolitischem Hintergrund: Die Liebe des spanischen Infanten Carlos zur französischen Prinzessin Elisabeth von Valois bleibt unerfüllt, weil sein königlicher Vater, Philipp II., aus Staatsräson die junge Französin selbst zur Gattin nimmt. Aus der Angebeteten wird die Stiefmutter Verzweifelt und vom Freunde, dem Marquis von Posa, für die Sache der um ihre Freiheit ringenden Niederländer begei-

stert, tritt der Sohn dem Vater entgegen, mit blanker Waffe sogar. Er wird am Ende zum Opfer ebenso wie der Freund, der sich zeitweilig das Vertrauen des strengen und kalten Monarchen erringt. Auch der wird zum Opfer: Er verliert im leidenschaftlichen Rededuell mit dem Großinquisitor, muß den Vertrauten im Auftrag der Kirche töten, verliert an sie den Sohn und schließlich auch die Gattin. In der imponierenden Schlußszene küßt er dem herrischen Großinquisitor die Hand und muß dem qualvollen Ende des Sohnes und der Gattin zusehen, vor gewaltigem, blutüberlaufenem Kreuz.

Geschickt und optisch zwingend hat man es in Neustrelitz verstanden, die begrenzten Dimensionen der Spielfläche durch dunkel-mächtige Büh-

nenbilder und eine auch dem Pomp des spanischen Hofes durchaus gerecht werdende Ausstattung (Franziska Harbort) zu nutzen. Ein kleines Spielpodest über den ersten Parkettreihen, Gänge rund um den Orchesterraum erweitern den Aktionsradius der Handelnden. Beleuchtungseffekte, Bühnentechnik sorgen dafür, daß auch die großen Szenen, das berühmte Autodafe z.B. und der Aufstand des Volkes nach der Ermordung Posas, eindringliches Profil erhalten. Regisseur Manfred Sträube hat es sich nicht leichtgemacht. Er griff auf die fünfaktige Fassung des Verdi-Werkes zurück, um in der einleitenden Szene zwischen Carlos und Elisabeth im Wald von Fontainebleau nicht nur ihre aufblühende Liebe zu zeigen, sondern durch die friedensbittenden Armen und Gequälten die Entscheidung Elisabeths für die politische Heirat und gegen ihr Herz zu verdeutlichen. Und man nahm's mit der historischen Wahrheit

des Stoffes auch in Details genau: So erscheint die Prinzessin Eboli, die Geliebte des Königs und hier vor allem abgewiesene Rivalin Elisabeths bei Carlos einäugig, mit kunstvoller Klappe über dem seit Kindheit entstellten linken Auge.

Szenenbilder und Spielaktionen der Solisten, des Chores, trafen die Impulse der leidenschaftlich lodernden Verdi-Musik. Vor allem aber hatte das Ganze erstaunliches musikalisches Profil. Das Orchester mit kraftvoll rundem Blech, genau und sensibel artikuliertem Streicher- und Holzbläserspiel war unter seinem jungen Chef Golo Berg äußerst intensiv bei der Sache. Die Chöre (Chor und Extrachor des Landestheaters, Mitglieder des Konzertchores Neustrelitz e.V., einstudiert von Gotthard Franke) klangen frisch und voll dramatischer Expression. Und die vorwiegend jungen Solisten meisterten ihre anspruchsvollen Partien mit Bravour. Wichtige Partien konnten sogar doppelt be-

setzt werden. Der Berliner Gerhard Stephan imponierte als König Philipp mit energischcharaktervollem Baßbariton. Als vielversprechender Verdi-Tenor sang Joachim Helms sicher und kraftvoll den Carlos. Der Bulgare Daniel Ratschew hatte für die Gesänge des Posa Kraft und überzeugendes italienisches Timbre. Mit schön ausgebildetem jugendlich-dramatischem Sopran waren die Bulgarin Penka Christowa eine überzeugende Elisabeth und Beate-Maria Vorwerk aus Hannover mit ihrem intensiven Mezzo die Eboli. Mit erzenem Baß beherrschte der Ungar Istvän Trefäs als Großinquisitor die Szene. Auffallend auch der schön schwebende Soprangesang Nada Radakovichs (Stimme vom Himmel), der reizvolle Spielsopran Regine Sachers (Page Elisabeths). Ein spielfreudiges, gesanglich überzeugendes Solisten-Ensemble, das sich die Herzen der Hörer im Sturm eroberte.

HANS JÜRGEN SCHAEFER

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