- Kultur
- RITA SPRENGEL: DER ROTE FADEN. LEBENSERINNERUNGEN
Was für ein außerordentlicher Mensch
Der Rote Faden. So nennt Rita Sprengel ihre Lebenserinnerungen. Ich lernte Rita 1946 kennen, als sie bei meinem Freund Hans Jendretzki, damals Stadtrat in Berlin, arbeitete. Damals hatte sie 18 Jahre legale und illegale politische Arbeit als Kommunistin, Gefängnis und das Konzentrationslager Ravensbrück hinter sich gebracht. Es war eine erfreuliche Bekanntschaft mit einem klugen Menschen, der offen und verständnisvoll sprach, bescheiden und arbeitswütig war.
Unser Verhältnis wurde freundschaftlich, nachdem sie von doktrinären Karrieristen 1950 aus der Partei ausgeschlossen wurde. Offenbar begriff man nach einiger Zeit, was für eine prächtige Kommunistin Rita war. So kann sie aus dem Jahr 1955 berichten: „Damals wurde fortschrittliche Intelligenz zum Parteilehrjahr eingeladen. Die Institutsparteileitung bat mich, die aus der Partei Ausgeschlossene, den Zirkel mit der parteilosen Intelligenz zu übernehmen. Ich sagte zu. Es wurde ein lohnender Zirkel mit manchmal direkt leidenschaftlichen Diskussionen.“
Und unmittelbar daran an-
schließend: „Auf Anregung der Institutsparteileitung beantragte ich 1957 meine Neuaufnahme in die Partei. Die Mitgliederversammlung sprach sich einmütig dafür aus. Nachdem die Kreisleitung meine Akten geprüft hatte, ließ sie mich wissen, jetzt, nach dem XX. Parteitag der KPdSU, bestände Aussicht auf Rücknahme meines Ausschlusses. Mein Antrag a.uf Neuaufnahme in die Partei wurde von der Kreisleitung als Antrag auf Rücknahme meines Ausschlusses an die Zentrale Parteikontroll-Kommission weitergeleitet und hatte Erfolg. Der Parteisekretär überreichte mir einen großen Strauß roter Nelken.“
Rita hat stets wissenschaftlich gearbeitet, zumeist auf dem Gebiet der Wirtschaft, obgleich sie Jura studiert hatte.
Als Sigrid Jacobeit, die Leiterin von Ravensbrück, und ihr Mann Wolfgang mir die .Autobiographie von Rita, die sie herausgegeben haben, zusandten, freute ich mich, Ritas Leben nachlesen zu können. Ich hatte mit ihr, die 1993 starb, in den letzten Jahren nur noch schriftlichen Kontakt, Wie oft hatten wir doch gute Freunde unter Genossen, ohne ganze Lebensabschnitte ihres
Rita Sprengel: Der Rote Faden. Lebenserinnerungen. Ostpreußen. Weimarer Republik. Ravensbrück. DDR. Die Wende. Hg. von Sigrid Jacobeit. Mit einem Nachwort von Wolfgang Jacobeit. Edition Hentrich, Berlin 1994. 331 S., 36,80 DM.
Lebens zu kennen!
Aber die Lektüre des Buches wurde zu einem ganz andersartigen, zu einem ganz besonderen Erlebnis. Immer hatte ich Rita als Genossin geschätzt, aber nie hatte ich begriffen, was für ein außerordentlicher Mensch sie war. Ich kenne keine Autobiographie - und ich habe Hunderte gelesen und selbst drei Bände Memoiren geschrieben -, in der der Autor so bemüht um eine wohldurchdachte Selbstbeobachtung, Selbstanalyse, Selbstkritik ist, ohne sich als gesellschaftliches Wesen oder als Individuum peinlich bedeutend zu nehmen.
Diese Selbstanalyse setzt schon früh ein, schon gleich zu Beginn ihrer Parteitätigkeit hören wir (S. 103):
„Eines Tages fragte mich Neddermeyer, warum ich mit der sozialistischen Studentengruppe nicht in Kontakt ge-
blieben sei und es nicht zumindest versucht hätte, die Besten von ihnen zu uns herüberzuziehen.
Ich stotterte, sie seien zu passiv und zu verspießert. Von ihnen sei nichts zu erwarten. Außerdem hatte ich die Einladung zu unserer ersten Versammlung an ihr Brett geheftet.
Das genüge doch nicht, entgegnete Neddermeyer.
Ich setzte an, ihm zu widersprechen. Plötzlich begriff ich: Er hatte ja recht; noch im vergangenen Semester hatten die Genossen mich einstimmig zu ihrer Vorsitzenden gewählt. Auch ich hatte sie enttäuscht. Auch ich hatte es nicht geschafft, mich gegen alle Widerstände, Widersprüche und das Unterdrücken der Initiative der Mitglieder durch Matull durchzusetzen. Statt ihnen zu helfen, warf ich ihnen ihre Hoffnungs- und Kraftlosigkeit auch noch vor.. Ich, die ich mich in späteren Jahren über Sektierer empörte, habe damals, 1928, eine wahre Meisterleistung an Sektierertum vollbracht.“
Und sie endet im Alter von einigen achtzig Jahren, als sie schwerhörig geworden ist (S. 296): „Natürlich heißt das
nicht, daß ich zu denken aufhörte und mich nicht mehr für das Geschehen verantwortlich fühlte. Immer wieder fragte ich mich: Was ist eigentlich mit unserer .sozialistischen Demokratie' los? Warum ist es trotz guter Gesetze und guten Willens vieler so schwer, sie mit Leben zu erfüllen? Immer wieder schien es mir, als würde absichtlich Sand in das Getriebe geschüttet.“
Und was für eine wundervolle Vision hatte sie in der Hitlerzeit (S. 304)! „Ein Bibelwort ließ mich nicht los: ,Herr, nun lassest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.' Sind wir Sozialisten nicht diesem Priester vergleichbar, dessen .Frieden', dessen Lebenserfüllung darin besteht, daß er kommenden Wert, kommendes Glück, für das seine Zeit noch blind ist, das von dieser Zeit verdammt und gekreuzigt wird, empfindet, erkennt, in sich aufnimmt, ihm dient?“
Ach Rita, was warst Du für ein wundervoller Mensch, was für eine großartige Kommunistin! Und was für ein Trottel war ich, das nicht erkannt zu haben!
JÜRGEN KUCZYNSKI
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