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  • Kultur
  • Zum 70. Geburtstag der jüdischen Sängerin Esther Bejarano

Mir lebn ejbig

  • Lesedauer: 4 Min.

Ruth auf der Straße zusammengeschlagen wurde, brannte auch bei uns die Synagoge, angezündet von einem Kollegen meines Vaters. Als sie am 20. April 1943 mit einem Viehwagen ins KZ Auschwitz transportiert wurde, hatte ich gerade die Uniform eines Luftwaffenhelfers anziehen müssen mit dem gehaßten

Hakenkreuzadler daran.

Aber was nützt der Haß auf die Nazis, den ich von meinem Vater gelernt hatte. Ich hatte nicht gelernt, mich gegen Uniformen zu wehren, und nun stand ich auf der Seite der Mörder, sie war auf der Seite der Opfer.

Sie war damals achtzehn Jahre alt und hat um ihr Leben spielen müssen als Akkordeonistin des Mädchenorchesters von Auschwitz. Märsche, wenn die Kolonnen der Abgeordneten zur Arbeit aus dem Lager zogen und wenn sie abends zurückkamen und die Leichen der Verhungerten und Erschlagenen mitbrachten, damit ihre Zahl stimmte. Sie mußte spielen, Walzer, Volkslieder, Rondos, um nicht ins Krema-

torium zu kommen. Das lag in Blickweite vor ihrer Baracke, und sie sah jeden Tag Tausende in den Gaskammern verschwinden.

Aufrecht hielt'sie die Solidarität: „Wir hielten zusammen, weil wir alle denselben Feind zum Teufel wünschten.“ Sie war auf den Tod krank, Typhus, wurde gerettet, weil man sie im Orchester brauchte.

Dann kam der Morgen der Menschheit, der,8. Mai 1945, die Befreiung. Die abgemagerte 20jährige Esther erlebte ihn in Lübz:.„Ein russischer Soldat brachte ein riesig großes Bild von Adolf Hitler und stellte es mitten auf den Marktplatz. Ich nahm mein Akkordeon, das mir ein amerikanischer Soldat geschenkt hatte, und spielte und spielte. Ein amerikanischer und ein russischer Soldat zündeten das Bild an. Adolf Hitler brannte lichterloh auf dem Marktplatz von Lübz, und um das brennende Bild herum tanzten die Soldaten mit den Mädchen aus dem KZ.“

Ich war damals Matrose auf einem Nazi-Zerstörer, 18 Jahre alt. Wir fuhren an der däni-

schen Küste entlang. Überall waren die Häuser und die Kirchen mit rot-weißen Fahnen geschmückt, und die Glocken läuteten. Obwohl wir in die Gefangenschaft fuhren, hatte ich mich noch nie so frei gefühlt wie an diesem 8. Mai 1945.

Es kamen bittere Jahre, in denen die Freiheit wieder klein wurde. In Deutschland waren die Nazis immer noch da. Israel wurde auf der Unfreiheit der Palästinenser aufgebaut.

Esther kam wieder nach Deutschland, mit ihrem Mann Nissim. Sie hieß nun Esther Bejarano. Es ist fast zwanzig Jahre her, da freundeten wir uns an und wurden wie Schwester und Bruder. Esther war in Deutschland stumm geworden. Nachts sah sie hohe schwarze Stiefel auf sich zukommen. Dann wachte sie auf und hörte sich selbst schreien. Wenn das Schreien vorbei war, blieb der Kopfschmerz.

Aber nun begann sie wieder zu singen. Gemeinsam machten wir Veranstaltungen: Zum Gedenken an die 20 Kinder vom Bullenhuser Damm, die am Kriegsende in Hamburg

von SS-Mördern erhängt worden waren. Zur Erinnerung an die Kristallnacht. Zur Erinnerung an die vielen Opfer, an ihren Vater Rudolf und ihre Mutter Margarethe, die im Kaiserwald bei Riga ermordet wurden, und an ihre Schwester Ruth, die Schweizer an der Grenze zurückschickten und von den Deutschen erschossen wurde.

Esther konnte wieder über ihre Zeit in Auschwitz sprechen. Sie erzählte davon in Schulen und auf großen Veranstaltungen. Sie sang mit Harry Belafonte, Miriam Makeba und Maria Farandouri auf den Festivals „Künstler für den Frieden“ vor Hunderttausenden: „Sag nie, du gehst den allerletzten Weg.“

Sie organisierte das Auschwitz-Komitee der Bundesrepublik Deutschland, sammelte die Überlebenden um sich und berichtete den Jüngeren von der Solidarität unter den Verfolgten. Es war unglaublich, mit welcher Fröhlichkeit sie uns mitreißen konnte, wenn wir mutlos wurden. Sie hat die Stimme einer Frau, deren Leben und deren Lieder eins geworden sind. Ihr Lied heißt: Mir lebn ejbig! Meinen Glückwunsch zu Deinem siebzigsten Geburtstag, Schwester

GÜNTHER SCHWARBERG

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