- Politik
- Weltpremiere in der Berliner Waldbühne: »Dem Deutschen Volke« - Dokumentarfilm der Gebrüder Hissen über die Reichstagsverhüllung
Star im Silbergewand
Von Marion Pietrzok
Nur das Trommeln der Medien, den Lärm der Bunte-Schlagzeilen-Industrie hatten Sie damals vernommen? Am vierzehntägigen »Jahrhundertereignis«, als das die Reichstagsverhüllung im schönen Sommer des vergangenen Jahres bejubelt wurde, haben Sie nicht direkt Anteil genommen? Keins der handtellergroßen limitierten Stücke vom Stoff, aus dem das TKäumen und andächtige Staunen gemacht waren - das einmalige Silbergrau, mit dem Christo und Jeanne-Claude das hohle Haus umhüllten -, ist in Ihrem Besitz? Kein Buch, handsigniert und numeriert? Kein Plakat, nicht mal eine Postkarte? Von einer Originalgrafik ganz zu schweigen? Nun, da kann Ihnen leider nicht geholfen werden. Vorbei, vorbei. Das Projekt »Wrapped Reichstag« existierte nur für zwei Wochen, und »wer es nicht gesehen hat, wird es niemals sehen« - sagte Jeanne-Claude, als der Presse der Dokumentarfilm »Dem Deutschen Volke. Verhüllter Reichstag 1971-95« angekündigt wurde.
Für den 105 Minuten langen Film der Gebrüder Wolfram und Jörg Daniel Hissen, die die mehr als zwei Jahrzehnte währende »Arbeit am Projekt« mit der
Kamera verfolgten und das Happening an der Riesenskulptur auf 35-Millimeter-Film bannten, eine wirksame Negativwerbung. Immerhin kamen am vergangenen Freitag rund 5000 Zuschauer auch viele der damaligen Helfer und Mitarbeiter - in die Berliner Waldbühne, um bei der Weltpremiere des Films die Erinnerung aufzufrischen, den eigenen Augenschein mit den gefilmten Ansichten zu messen. Das dürfte wohl Zuschauerrekord für einen Dokumentarfilm sein. Und natürlich wollte jung und alt im tiefen Rund vor der Großbildleinwand auch dem Künstlerpaar, das eigens für die Uraufführung nach Berlin gekommen war, ein Dankeschön sagen. Hatte es doch mit außergewöhnlicher Beharrlichkeit das Reichstagsgebäude in ein ästhetisches Objekt von der Symbolkraft einer Pralinenschachtel verwandelt. Szenenapplaus gab es jedenfalls immer dann, wenn es in einer besonders schönen Perspektive gezeigt wurde.
Nicht der ganze Weg von der Idee über Etappen der Werbetouren Christos, um unter deutschen Politikern Befürworter zu gewinnen, bis hin zur endlichen Volksbeglückung durch das monumentale Kunsthandwerksstück wurde von den Gebrüdern Hissen dokumentiert. Langjähriger Projektbegleiter Albert Maysles steuerte frühe Filmaufnahmen bei. Aus
insgesamt 60 Stunden Rohmaterial - anfangs drehten die Hissen-Brüder nur mit Videokamera, zum Schluß wurde gar u. a. eine fliegende Kamera eingesetzt entstand laut Eigenwerbung der bisher aufwendigste 35mm-Dokfilm, der seit 50 Jahren in Deutschland gedreht wurde. Er gab sich als Mischung aus Politthriller und Schnulze, Hauptdarsteller: Christo, Jeanne-Claude und, als eigentlichem Star, der verhüllte Reichstag.
Die ersten 45 Minuten zeigen die Vorgeschichte in einer Weise, daß sich erhellt, warum Christo bei jedem Verpakkungswerk alle Etappen bis zur Realisierung als feste Bestandteile verstanden wissen will: Erst wenn man wirklich begriffen hat, daß sich da jemand an schier Unmögliches gewagt hat, kann man das fertige Kunst-Stück recht genießen. Spannend und wie ein Hollywood-Gerichtsfilm wirkte vor allem die Kompilation der denkwürdigen Bundestagsdebatte am 25. Februar 1994, als es um die Erlaubnis für Christo ging, dem »Zentrum des demokratischen Deutschlands« (Roloff-Momin) zu schillerndem Glanz zu verhelfen. Trotz solcher Argumente wie »So etwas tut man nicht« hatten schließlich in der namentlichen Abstimmung 292 Abgeordnete ihr Ja gegeben, das »Reichsaffenhaus« von Wilhelm II in ein vergängliches Kunstwerk verwandeln zu lassen.
Allerdings vermied der Film, auf nur irgendeine Weise anklingen zu lassen, daß sich die Ahnung eines der Politiker durchaus erfüllte: Das Spektakel hatte die Berliner im Ost- und im Westteil der Stadt nicht nur nicht vereint, sondern gar die Nation gespalten. Zwar war die Atmosphäre am verhüllten Reichstag beschwingt und friedlich - doch lieferten sich die Genießer und die Asketen sowohl vor Ort als auch anderswo erbitterte Wort-Gefechte. Schließlich ist, was dem einen gefällt, noch lange nicht des anderen Nachtigall. Vor allem in der Frage, ob die Gewandprobe am steinernen Wikkelkind Kunst sei oder nicht, konnte man wohl verschiedener Meinung sei. Immerhin, niemand hatte die von Politikern zuvor befürchtete »Ironie im Umgang mit unserer Geschichte« bemerkt, als dem Reichstagsgebäude die Narrenkappe übergestülpt war. Nein, die Menschen, die kamen - fünf Millionen Besuche wurden gezählt - hatten einfach Spaß, erfreuten sich an Form und Farbe der Draperie, an Licht und Schatten und am Spiel der Proportionen. Frohsinn statt Tiefsinn war die Devise, und das zeigt der Dokumentarfilm in fast ermüdender Ausführlichkeit.
Die Filmemacher werden nun ihre unendliche Geschichte von der Silberplane auf Filmfestivals zeigen, und sie hoffen, einen Verleih zu finden, der den Film ins Kino bringt. Auch soll er im Fernsehen zu sehen und für alle Reichstagsverhüllungsnostalgiker auf Videokassette zu haben sein.
Was Christo und Jeanne-Claude betrifft, so haben sie mit Berlin immer noch eine »Beziehungskiste«. O-Ton Jeanne-Claude: »Ein kleines Stück unseres Herzens wird immer in Berlin sein«. Am 8. Oktober erhält das Kühstierpaar das Bundesverdienstkreuz.
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