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Süchtige therapieren Süchtige

Seit 25 Jahren setzt Synanon auf den totalen Entzug

  • Lesedauer: 3 Min.

Von Michael Reinhard

Der Bürokomplex in der Bernburger Stra-ße sieht nur noch nach einem Provisorium aus. In der Berliner Zentrale der Suchthilfe-Institution herrscht Aufbruchstimmung: Akten und lose Zettel stapeln sich auf den Tischen, Kartons mit dem Synanon-Schriftzug auf dem Fußboden. Eigentlich sollte der Umzug in das neue Objekt in Berlin-Lichtenberg pünktlich zum 25jährigen Jubiläum abgeschlossen sein. Aber der wirtschaftsfeindliche Winter ist auch an Synanon nicht spurlos vorbeigegangen. Trotzdem ist Geschäftsführer Ralph-Dieter Wilk guter Dinge: »Das erste Mal haben wir für alle genügend Platz.« Da ist es ihm gleich, ob sich die ganze Angelegenheit um sechs Wochen verschiebt. Das neue Synanon-Zentrum bietet 431 neue Wohn- und Arbeitsplätze. Jeder kann kommen, »der von Drogen und Alkohol weg will.« Diese Maxime hat sich seit der Synanon-Geburtsstunde 1971 nicht geändert. Wilk selbst kam Mitte der 70er Jahre zu Synanon. Kurz vor Ende seiner Ausbildung zum Rundfunkmecha-

niker begann er, Drogen zu nehmen: zuerst Haschisch, später LSD, letztlich Heroin. Auch bei ihm versagte die professionelle Hilfe, so daß die von Synanon propagierte Selbsthilfe der einzig gangbare Weg war Heute ist er bei Synanon eine Ausnahme: er ist zwar als Geschäftsführer tätig, lebt aber mit seiner Familie außerhalb der Gemeinschaft. Denn normalerweise leben die Synanisten wie in einem israelischen Kibbuz, der Wohnen, Arbeit und Kultur integriert.

Die Synanon-Therapie scheint ziemlich simpel: vom ersten Tag an totaler Entzug. Die Therapeuten sind selbst Süchtige, die inzwischen gelernt haben, auf den Drogenkonsum zu verzichten. Sie wissen ganz genau, daß es keine Alternative zum Nüchternsein gibt und verfügen über die Empathie, die Sozialarbeiter ohne Suchterfahrung einfach nicht aufbringen können. Dennoch stehen viele das Programm nicht durch.

Auch Fritz Koll brauchte sechs Anläufe bei Synanon. Vorher hatte der 51jährige schon vier Therapien absolviert - allesamt erfolglos. Jetzt ist er seit dreieinhalb Jahren dabei, also dreieinhalb Jahre clean. Als Betreuer kümmert er sich um die

Neuankömmlinge. »Egal, ob man gespritzt oder getrunken hat«, sagt Koll, »man muß erst einmal lernen, die Zeit auszufüllen, die man früher mit der Sucht zugebracht hat.« Ein Job, für den ihn nicht zuletzt seine Biographie qualifiziert. Allein zwanzig Jahre hat er gespritzt. Er weiß wie es ist, viel oder wenig Geld zu haben, einsam und obdachlos zu sein. Er war Kfz-Mechaniker, Antiquitätenhändler und Dealer. Lange Zeit konnte er sich nicht mit der Synanon-Philosophie, die Privatbesitz ver- und Einheit gebietet, anfreunden. Doch während er mich durch das neue Objekt führt, merke ich ihm an, daß er sich sehr wohl mit der Gemeinschaft identifizert.

Koll zeigt mir die Garage, die für die Fahrzeuge des Transportunternehmens vorgesehen ist, die Druckerei, die Bäckerei und die Keramikwerkstatt. Überhaupt gibt es gibt es etliche Möglichkeiten für die Synanisten, sich zu beschäftigen und weiterzubilden. Neben staatlichem und privatem Sponsoring erwirtschaften die synanoninternen Zweckbetriebe 30 Prozent des gesamten Budgets.

Beim anschließenden Mittagessen sind auch die Synanon-Gründer Ingo und Ire-

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