Kein Abschottung, sondern Integration
Begegnungsstätte Integral vergrößert sich Von Simone Schmollack
Andreas Kaatz war einer der ersten ständigen Integral-Gäste
N D-Foto: Burkhard Lange
Vor zwei Jahren hat er das erste Mal in seinem Leben allein ein Ei aufgeschlagen. Jetzt kann er mit einem Messer umgehen und sogar Kartoffeln schälen. Dies würde der 36jährige Andreas Kaatz nicht können, gäbe es Integral nicht. Das Begegnungszentrum im Hochhaus an der Weberwiese in Friedrichshain befähigt Behinderte, so weit wie möglich selbstbestimmt zu leben.
Wie der in seiner Feinmotorik stark eingeschränkte Rollstuhlfahrer wohnen viele Behinderte lange bei den Eltern. Doch früher oder später wollen die meisten ein eigenständiges Leben führen oder eine eigene Familie gründen. »Wer aber jahrelang bemuttert worden ist, der kann das gar nicht. Da ist schon Kochen ein Lebenswerk«, sagt Sozialarbeiter Fredegar Runkel. So gehören Kochen, Bakken, Nähen, Schreibmaschineschreiben oder Gymnastik zum Kursangebot bei Integral, aber auch Keramik, Seidenmalerei oder Trommeln. Vor allem aber ist Integral eine Begegnungsstätte: Von Montag bis Freitag von 9 bis 20 Uhr und an den Samstagen von 15 bis 19 Uhr treffen sich hier Seh- und Hörgeschädigte, Autisten, Rollstuhlfahrer, geistig Behinderte, Stotterer, Spastiker, um zu essen, zu spielen, zu reden, voneinander zu lernen. Mittag wird selbst gekocht und kostet 2 DM. Monatlich kommen rund 1000 Gäste. »Aber leider zu wenig Nichtbehinderte«, bedauert Leiterin Nadine Pöffel. »Wir wollen keine Abschottung von Behinderten, sondern wahre Integration.«
An manchen Tagen platzen die zwei Räume im Anbau des ersten Ostberliner Hochhauses fast aus den Nähten. Zu den Länderabenden, bei denen auch landestypisch gekocht wird, müssen zwischen Dia-Vortrag, Essen und Tanz immer die Tische und Stühle auf die Terrasse und wieder zurück geräumt werden. Auch alle Kurse finden in den beiden Räumen statt.
Als im Sommer 1996 das nebenan liegende Sozialamt IV auszog, ergriff Nadine Pöffel die Chance beim Schöpfe und beantragte die Erweiterung des seit 1990
existierenden Projekts. Eine Vergrößerung war nicht nur wegen des reichhaltigen Angebots nötig geworden, wie Nadine Pöffel sagt, sondern auch durch den Zustrom Behinderter anderer Projekte solcher, die im Zuge der Sparmaßnahmen schließen mußten.
Vor wenigen Wochen konnte mit der Renovierung der neuen Räume begonnen werden, bald wird es für jeden Kurs ein eigenes, artgerechtes Zimmer geben. Ab April soll im Keller auch der »Bunte Vogel« gedruckt werden. Die europaweit einzige Zeitschrift für gestützte Kommunikation - einer Computermethode, mit der Autisten »sprechen« lernen - wird vom Verein »Eltern für Integration« unter dem Integral-Dach herausgegeben.
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