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Ab wieviel Unrecht ist ein Staat ein Unrechtsstaat?
Reinhard Höppner über Alteigentum, Geld und Willkür
Aus einer Rede, die unlängst der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reinhard Höppner, auf dem Rechtspolitischen Kongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung in Mainz gehalten hat:
Viele Menschen im Osten haben das auf sie angewendete Recht als etwas Fremdes, seine Interpretation für ihre Verhältnisse als will-1 kürlich empfunden. Zahlreiche “ Brüche sind entstanden, weil k die Verhältnisse nun mal nicht ilso waren, wie sie nach den bundesdeutschen Rechtsregeln “hätten sein müssen. Wer da nach dem Motto handelt, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, lebt vorbei an den tatsächlichen Verhältnissen im
Osten und kommt nicht an im Denken seiner Bürger. Da wird dann manche Rechtsprechung schnell als Willkürakt empfunden. Der Zorn richtet sich gegen die Rechtsanwälte und Richter und müßte sich doch eigentlich gegen die Gesetze richten, die für diese Verhältnisse nicht gemacht sind. Das hat der Akzeptanz des Rechtsstaates im Osten sehr geschadet. Zahlreiche Beispiele lassen sich dafür anführen.
Die Lösung der Eigentumsfrage ist das am häufigsten diskutierte und wohl gravierendste Beispiel. Wer konnte beim Erwerb eines Hauses in DDR-Zeiten ahnen, daß die Rechtsregeln nicht bundesdeutschen Gepflogenheiten entsprechen und man durch die Wende um sein Eigentum gebracht wird? Jeder DDR-Bürger, der die DDR verlassen wollte, wußte
zum Beispiel, daß er zuvor sein Eigentum veräußern mußte. Wer konnte ahnen, daß viele nach der Wende unter dem Verweis auf staatliche Repressionen dieses Eigentum zurückerhalten würden und die neuen Eigentümer leer ausgehen? Erbitterte Konflikte zwischen westlichen Alteigentümern und östlichen Haus- oder Grundstücksbesitzern waren die Folge. Häuslebauer, die nach der Wende den ihnen bis dahin zur Nutzung überlassenen Grund und Boden gekauft hatten, werden fortwährend verunsichert. Ständig werden neue Rechtsargumente angeführt, mit denen die Kaufverträge in Frage gestellt werden. Und was soll man von der Verläßlichkeit eines Rechtsstaates halten, wenn trotz Festschreibung im Einigungsvertrag und trotz mehrfacher Bestätigung
durch das Bundesverfassungsgericht immer wieder aufs Neue- und das ausgerechnet durch den Bundesjustizminister - am Bestand der Bodenreform gerüttelt wird? Vertrauen in den Rechtsstaat wächst dadurch nicht.
Wer konnte ahnen, daß das Genossenschaftsrecht der Bundesrepublik zwar bei der Auflösung der Konsumgenossenschaften angewendet wurde, nicht aber bei der Umstrukturierung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften oder bei den Wohnungsbaugenossenschaften, obwohl es möglich gewesen wäre? Hier wurde offenbar aus wirtschaftlichen Überlegungen Genossenschaftsrecht sehr willkürlich interpretiert.
Besonders, kurios ist das Problem der innerstaatlichen Schulden der DDR, genannt Altschulden. Wendet man das Schuldrecht der ehemaligen Bundesrepublik auf die in der DDR entstandenen Verhältnisse an, so unterstellt das nachträglich, daß es in der DDR im staatlichen Bereich selbständig handelnde und entscheidende Rechtspersönlichkeiten gegeben hätte. Es gab aber weder frei und selbständig entscheidende Wirtschaftsunternehmen noch kommunale Selbst-
verwaltung. Wenn es um die Charakterisierung der DDR als einen totalitären Staat geht, wird das auch von keinem bestritten. Anders, wenn es ums Geld geht. Dann wird einfach ignoriert, daß solche Gelder staatlich zugewiesen und willkürlich als Schulden ausgewiesen oder auch erlassen wurden. Die Anwendung des heutigen Schuldrechtes führt also zu krassen Ungerechtigkeiten. Der politische Streit um die sogenannten kommunalen Altschulden war also nicht nur ein Streit um Geld. Es geht um die willkürliche Anwendung von Recht, das nicht für die Verhältnisse geschaffen wurde, für die es jetzt mißbraucht wird (...)
Ein Stück weit entsteht dieses ständig wechselnde Urteil über die DDR natürlich auch dadurch, daß die meisten gelernten Bundesbürger von den Verhältnissen in der DDR keine Ahnung haben und ihr Wissen nur aus dem weit verbreiteten Fundus von Vorurteilen schöpfen. Diese sind zudem noch geprägt worden von den Menschen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten von Ost nach West »abgehauen sind«, wie man bei uns sagte, und die also diese DDR in schlechtester Erinnerung hatten. Um so erstaunlicher, daß auf die
Frage, was die DDR nun eigentlich war, nach der Herstellung der deutschen Einheit nur die Menschen aus der ehemaligen Bundesrepublik eine kurze und schlüssige Antwort wußten. Das entscheidende Schlagwort hatte auch in den Einigungsvertrag Eingang gefunden: Ein Unrechtsregime. Die Menschen, die dieses Regime ein Leben lang oder doch wenigstens 40 lange Jahre miterlebt hatten, waren eher sprachlos. Daß in der DDR Unrecht geschehen ist, wird niemand bezweifeln. Aber das reicht nicht aus, diesen Staat zu charakterisieren. Wer wollte unterstellen, daß es in der ehemaligen Bundesrepublik kein Unrecht gegeben hätte? Ab wieviel Unrecht ist ein Staat ein Unrechtsstaat? Was wäre eigentlich, wenn zur Einschätzung dieser Frage in jedem Staat alle Dokumente des Geheimdienstes öffentlich zugänglich gemacht werden müßten? Wenn alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, wäre dies doch in Deutschland keine abwegige Frage. Nicht umsonst aber werden alle geheimen Dokumente eines Staates jahrzehntelang unter Verschluß gehalten. Welche Maßstäbe also legen wir an, einen Staat und seine handelnden Personen zu beurteilen?
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