Marx war doch Marxist
Zu »Charles Fiterman: Es ist Zeit, die Spaltung der Linken zu beenden« (ND vom 9. Januar):
Die ND-Serie »Was kommt von links?« darf wohl zu Recht das Interesse aller beanspruchen, die sich über pluralistisches Denken innerhalb der sozialistischen Bewegung informieren wollen. Um so verwunderter war ich daher, daß Charles Fiterman in seinen ansonsten interessanten Überlegungen äußerte: »Ich erinnere mich, daß Marx selbst gesagt hat, daß er kein Marxist sei.« Eine Formulierung, die uns von Gegnern des Marxismus »bis zum Überdruß in die Zähne geworfen« (Engels) worden ist. Außerdem hat dieses Zitat etwas mit der speziellen Parteigeschichte der französischen Sozialisten zu tun.
Daher sollte diese Gelegenheit benutzt werden, um diese Sache für Anhänger wie Gegner des Marxismus richtigzustellen: In den Werken von Karl Marx oder in dessen persönlichem Briefwechsel kann man jenes oben erwähnte Zitat freilich vergeblich suchen. Es handelt sich um eine mündliche Äußerung Marx' ge-
genüber seinem Schwiegersohn Paul Lafargue, die Friedrich Engels mehrfach überliefert hat, zum ersten Mal an Eduard Bernstein am 2./3.11.1882, wo es heißt: »Nun ist der sogenannte >Marxismus< ein ganz eigenes Produkt, so zwar, daß Marx dem Lafargue sagte: ce qu'il ya certain, c'est que je moi je rie suis pas Marxiste.« (MEW Bd. 35, S. 388) Das richtet sich gegen linke, dem Anarchismus zuneigende Kräfte in der französischen Arbeiterbewegung, die ihre Ansichten als »marxistisch« bezeichneten.
Als nach dem Fall des Sozialistengesetzes auch in der deutschen Partei eine Gruppierung, die sich selbst als »die Jungen« bezeichnete, in ähnlicher Weise auftrat wie ein Jahrzehnt zuvor bei den Franzosen, bezog sich Engels mehrfach in Briefen an Conrad Schmidt und Paul Lafargue auf jenes Marx-Wort, am prinzipiellsten in seinem Urteil über die Publizistik der »Jungen«, die am 13. September 1890 im »Sozialdemokrat« erschien, wo es hieß: »Theoretisch fand ich darin einen krampfhaft verzerrten Marxismus^ bezeichnet einerseits durch starkes Mißverständnis der Anschauungs-
weise, die man zu vertreten behauptet, andererseits durch grobe Unbekanntschaft mit den jedesmal entscheidenden historischen Tatsachen, dritterseits durch das den deutschen Literaten so vorteilhaft auszeichnende Bewußtsein der eigenen unermeßlichen Überlegenheit. Marx sah auch diese' Jüngerschaft voraus, als er von dem zu Ende der siebziger Jahre unter gewissen Franzosen grassierenden >Marxismus< sagte: tout que je sais, c'est que moi, je ne suis pas marxiste - ich weiß nur dies, daß ich kein >Marxist< bin. (MEW Bd. 22, S. 69).
Summa summarum: Aus alldem geht hervor, daß sich Marx keineswegs mit jenem Ausspruch von seiner wissenschaftlichen Position distanzieren wollte, sondern von anderen, ihm unterschobenen Auffassungen. Was das Schicksal der pseudorevolutionären »Jungen« von vor über hundert Jahren betrifft, so landeten Max Schippel oder Conrad Schmidt, Bruder von Käthe Kollwitz, auf dem rechten Flügel der Sozialdemokratie, Paul Ernst sogar letztlich bei den Völkischen.
Werner Müller 10405 Berlin
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.