- Politik
- ND-GESPRÄCH MIT DR. GÜNTER FRENZEL
Skispringer vom Adler zum Drachen?
Mit dem dominierenden V-Stil ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht
Dr. Günter Frenzel ist Facharzt für Orthopädie und Sportmedizin in der Tagesklinik für Arthroskopie/ Sporttraumatologie in Berlin-Pankow. Er war einmal Nordisch-Kombinierter. Vom Sport nie losgekommen, startete er 1995 als 45jähriger noch einmal beim internationalen Skispringen in St. Johann. Auch zog es ihn vor wenigen Jahren zum Wasa-Skilauf nach Schweden, den er mit Bravour durchstand. Aus der Sicht einer aktiven Zeit mit 600 Sprüngen im Jahr und seines medizinischen Berufes widmet er sich heute nebenbei, aber mit wissenschaftlicher Akribie der Skisprungtechnik von einst und heute. Darüber sprach mit ihm Hans-Richard Vollbrecht.
? Ist bei der Entwicklung der Sprungtechnik mit dem sogenannten V-Stil das Ende der Fahnenstange erreicht?
Nein. Mitte der 80er Jahre mißlang dem Schweden Jan Boklöv ein Sprung mit vorn geöffneten Skispitzen. Dabei verspürte er unbewußt ein angenehmes Fluggefühl. Was er als komfortabel empfand und danach bewußt probierte, beruht auf physiologischen Gesetzesmäßigkeiten der neuromuskulären Koordination der Körperhaltung. Durch die nach außen rotierten Füße/Beine besteht die Möglichkeit einer vollständigen Strekkung des Hüftgelenks und damit der gesamten Wirbelsäule. Die vollständige Streckung des Körpers ist die physiologisch günstigste Haltung - gepaart mit der V-Stellung der Skier. Das garantiert
einen aerodynamisch-physiologischen Vorteil, der noch nicht vollendet ist.
? Warum?
Physiologische und physikalisch aerodynamische Grundprinzipien haben sich durchgesetzt, aber der Sprungstil ist noch nicht optimiert. In den 60er Jahren sprang der finnische Weltmeister Juhani Kärkinen mit etwas abgespreizten, nach außen rotierten Händen/Armen. Wegen nicht paralleler Armführung erhielt er zwar Haltungspunktabzüge, verschaffte sich aber durch die Vergrößerung der Tragfläche und der Möglichkeit flügelartiger Steuerung aerodynamische Weitenvorteile. Durch das Außenrotieren von Händen und Armen wurden Schulter und Kopf aufgerichtet. Auf der Grundlage solcher Gesetzmäßigkeit des Körpers entstehen zum einen die Vorteile des V-Stils, zum anderen noch mit leicht abgespreizten Armen eine weitere Vergrößerung der Tragfläche und die verbesserte Möglichkeit der Flugsteuerung. Das sieht dann wie der Flug eines Drachen aus.
? Aber keine Sprungstil-Epoche ohne Perfektionisten
Zu ihnen gehörten natürlich auch deutsche Springer wie Walter Glaß als einer der obersten Aerodynamiker oder Erich Recknagel mit seinem Hock-Kipp-Sprung. Oder die mit den Armen nach vorn springenden Helmut Recknagel und Werner Lesser, wobei Recknagel lange Zeit als das Maß aller Dinge galt. Harry Glaß gehört dazu. Er wurde wegen seiner
nach hinten geführten, am Körper anliegende Arme als der »stilreinste Fisch« bezeichnet. Oder der »Fisch« Hans-Georg Aschenbach, der mit dem Stil Olympiasieger und Weltmeister wurde. Natürlich Jens Weißflog, der erst als »Fisch«, dann als V-Springer das Prädikat als erfolgreichster Springer aller Zeiten erwarb.
? Hat der heutige V-Stil seine perfekten Interpreten?
Heutzutage, da ausschließlich im V-Stil gesprungen wird, sehe ich unter den Perfektionisten allen voran die Japaner, den Finnen Janne Ahonen und die Österreicher. Und allemal.auch Martin Schmitt, Sven Hannawald und Dieter Thoma. Die zumeist weiten Sprünge des japanischen Olympiasiegers Kazuyoshi Funaki entsprechen mehrheitlich einer Idealvorstellung. Daß er bei extremer Vorlage den gestreckten Körper zwischen den Skiern - und dazu extremer Weite auch noch einen Telemarkaufsprung zustandebringt, ist bewundernswert.
? Gibt's dennoch ein Aber?
Wenn Funaki und Co. erst einmal als Drachen segeln und die Sprungrichter das auch akzeptieren. Sie waren beim V-Stil von Boklöv zögerlich und verteilten wegen nicht paralleler Skiführung niedrige Haltungsnoten. Als die neue Ära aber nicht mehr aufzuhalten war, zogen sie mit und sparen heute mit der Höchstnote 20 nicht mehr Vielleicht geht es dem Drachen-Stil auch mal so.
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