- Politik
- DAS JAHRTAUSEND der Völkermorde / 7
Genozide - unerklärlich und doch zu verhindern
Taipinqaufstand: Kaiserliche Truppen greifen 1864 die Rebellenhauptstadt Nanjing an
Abb.. Times Illustr. Weltgeschichte
Massaker der Spanier im Tempel Tenochtitlän 1520
Von Bernhard H. F. Taureck
Es geht nicht nur ein Jahrhundert, sondern auch ein Jahrtausend zu Ende. Geographische Entdeckungen, wissenschaftliche, technische und soziale Revolutionen veränderten die Gesellschaft. Doch trotz Aufklärung kam es zu Ende des zweiten Jahrtausend zum größten Genozid in der Geschichte, dem Holocaust. Ein Streifzug durch das Millenium sagt viel über unser Jahrhundert aus.
Schon in der griechischen und jüdischen Antike geschahen sie mit einer Selbstverständlichkeit, die später Schule machen sollte - Völkermorde. Homer läßt Odysseus berichten: »Gleich von Ilion trieb mich der Wind zur Stadt der Kikonen / Ismaros hin. Da verheert' ich die Stadt und würgte die Männer. / Aber die jungen Weiber und Schätze teilten wir alle / Unter uns gleich, daß keiner leer von der Beute mir ausging.« (Odyssee IX.39-42). Die ungerechte Sache geht hier peinlich gerecht zu, die sexuelle und sonstige Beute wird exakt distribuiert. Das Alte Testament (Samuel 11.12.31) berichtet, wie König David mit gefangenen Ammonitern umging: »Aber das Volk drinnen führet er heraus und legt sie unter eiserne Sägen und Hacken und eiserne Keile und verbrannte sie in Ziegelöfen. So tat er allen Städten der Kinder Ammons.« Der engagierte deutsche Kirchenkritiker Karl Deschner sieht hierin eine Vorwegnahme der Methoden Hitlers.
In der Antike glaubte man sich zu derartigen Ausrottungen berechtigt, weil man Gebote der Götter bzw. des Gottes befolgte. Die Puritaner im 17 und 18. Jahrhundert beriefen sich auf das Alte Testament, als sie die Ureinwohner Amerikas, die Indianer - ob Männer, brauen oder Kinder - mordeten. Blutigste Verbrechen wurden »legitimiert« durch Glaubensbekenntnisse. Zur Ausrottung des Bösen sei man von Gott bestellt.
Ströme von Blut durchziehen das zweite Jahrtausend. Der »Mongolensturm« im 13. bis 15. Jahrhundert hinterließ 30 Millionen Tote. In der berüchtigten Bartholomäusnacht vom 23. auf den 24. August 1572 starben 10 000 französische Protestanten. 13 Millionen nordamerikanische Indianer wurden von den weißen Siedlern, den angeblich Zivilisation bringenden Europäern, niedergemetzelt. Die blutige Bilanz der Ausrottung der lateinamerikanischen Indios seit 1492 beläuft sich gar auf 75 Millionen Tote. Der Sklavenhandel raffte zwei Millionen Afrikaner dahin. Nach der Niederschlagung des Taipingaufstandes in China 1851-1864 gegen die Quing-Dynastie zählte man um die 30 Millionen Tote; es handelte sich um den größten »Politozid« (R.J. Rummel) vor dem 20. Jahrhundert, der mit westlicher Hilfe möglich wurde. 23 000 burische Frauen und Kinder starben 1902 in einem britischen KZ in Südafrika. Dem Genozid
an den Armeniern in der Türkei 1909 bis 1918 erlagen 1,8 Millionen Menschen. Dem NS-Genozid fielen 20 Millionen zum Opfer (Juden, Roma und Sinti, Slawen). Die Angaben zu Stalins Toten schwanken zwischen sechs bis 20 Millionen, auf das Konto Mao Tse-tungs geht der Tod von 37 Millionen, Pol Pot »dezimierte« sein Volk um zwei Millionen Menschen ... (weiteres Zahlenmaterial: G. Heinsohn, »Lexikon
der Volkermorde«, Rowohlt 1998, R.J. Rummel, »Death by Government«, Transaction Publishers 1997)
Mag man sich unter Umständen in eine konkrete kriminelle Tat, in einen einzelnen Mörder noch einfühlen können, bei Völkermord versagt jedes Begreifen. Die in unserem Strafgesetzbuch aufgeführten Motive für Mord - Mordlust, Geschlechtstrieb, Habgier - sind bekannt. Was jedoch sind die Motive, wenn Menschen andere Menschen nur wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit umbringen (so Hitler die Juden oder Stalin die Kulaken)? Und was die Gründe, anderen Menschengruppen ihre Existenzgrundlage zu entziehen, damit sie nicht überleben können?
Es gibt bis dato keine allgemeingültigen Erklärungen für Genozide. Die lange Zeit weit verbreitet Ansicht, diese mindern die Gefahr der Überbevölkerung, ist eine zynische Sinnzuschreibung. Planvoll einsetzbar für diesen Sinn ist der Genozid jedenfalls nicht. Denn welche Täter könnten Opfermillionen davon überzeugen, daß ihre Tötung ein öffentliches Gut sei?
Der 1984 verstorbene französische Philosoph Michel Foucault versuchte sich an einer Genozid-Erklärung. Als man diese unlängst in Frankreich veröffentlichte, reagierte die Öffentlichkeit mit Befremden. Laut Foucault verübt der technologisch ausgerüstete Staat Völkermorde, wenn er sich darwinistisch versteht und das eigene Überleben auf Kosten anderer Völker verfolgt. Doch Technikkult und Darwinismus gehören längst zum alltäglichen Selbstverständnis vieler
Staaten. Foucault bedient lediglich das Selbstverständnis der Täter und ebnet den Unterschied zwischen faschistischen und demokratischen Staaten ein. Ein zweites Beispiel: Der Psychoanalytiker Erich Fromm hat Freuds Todestrieb-Hypothese zu modernisieren versucht und »Nekrophilie« als mögliche Handlungsalternative in uns identifiziert. Woran jedoch läßt sich erkennen, ob jemand ne-
krophil ist.' Hier laßt uns Fromm im Stich und verweist auf Gesichtsausdruck, Träume, Scherze, Vorlieben, Wortwahl, allgemeine Lebensauffassung der verdächtigten Personen. Diesen vagen Angaben fehlen die benötigten Kriterien für
eine verläßliche Entscheidung darüber, ob eine Person todestriebbestimmt ist oder nicht. Hätte ein Psychologe ein Gutachten über eine genozidverdächtige Person zu verfassen und würde sich dabei auf Fromm stützen, so würde in dieser Situation die ohnehin vorhandene diagnostische Willkür bloß noch verstärkt.
Obwohl seit Jahrtausenden Gruppen mit erschreckender Selbstverständlichkeit andere Gruppen ausrotten, wurde der Sachverhalt Völkermord erst 1943 durch das Kunstwort »Genozid« von Raphael Lemkin beschrieben. Seit 1948 ist er von der UNO als Verbrechen fixiert. China und die Sowjetunion stimmten seinerzeit der Genozid-Konvention der UNO zu. Die USA dagegen ratifizierten lange Zeit nicht. Artikel IX der Genozid-Konvention der UNO unterstellt Streitfälle »hinsichtlich der Auslegung, Anwendung oder Durchführung« der Konvention dem Internationalen Gerichtshof. Das war für die USA inakzeptabel. Als Washington sich schließlich 38 Jahre später doch zur Unterzeichnung bereitfand, so unter der .Bedingung, daß keineswegs der Internationale Gerichtshofletzte Instanz in Auslegungsfällen darstellt. Stattdessen gilt: »Das besondere Einverständnis der Vereinigten Staaten ist in jedem Einzelfall erforderlich.« Dieser Zusatz entwertet jedoch die völkerrechtliche Geltung der Konvention gegen Völkermord in den USA.
David E. Stannard hat 1992 in seinem Buch »American Holocaust« die Frage, ob sich Mega-Genozide wie die Ausrottung der Indios und Indianer wiederholen könnten, ergänzt durch die seiner Ansicht nach viel wichtigere Frage: »Can it be stopped?« In der Tat übersteigen die Zahlen der Opfer auch (und gerade) in unserem Jahrhundert jegliche Vorstellungskraft. R. J. Rummel hat in seiner Studie »Death by Government« 1997 einen fiktiven Staat namens »Golgatha« gebildet, dessen Einwohner Opfertote von Genoziden der Zeit von 1900 bis 1987 darstellen. Dieser Staat der Toten käme auf 170 Millionen Einwohner. Und künftig? Werden immer neue Opferzahlen addiert werden müssen?
Um etwas zu stoppen, muß man sich über dessen Gründe klarwerden. Mit dem Blick auf die Geschichte und menschliche Motivationen sei hier folgende Unterscheidung vorgeschlagen: Völkermord geschieht, um Fremde in ihrem »Wesen« auszulöschen, oder er geschieht als situationsbedingte Nebenfolge des dem eigenen Wohl verpflichteten Handelns. Genozide sind, anders formuliert, entweder wesens- oder situationsorientiert.
Wesensorientierte Genozide bedeuten: Man ist sich absolut sicher, daß andere Völker und Gruppen in ihrem Sein und ihrer Sittlichkeit unveränderliche Züge aufweisen, die sie nicht ablegen. Man glaubt etwas über das »Wesen« der anderen zu wissen. Dieses wird als bedrohlich und unheimlich empfunden. Ein Zusammenleben mit diesen Anderen, Fremden erscheint unmöglich. Das eigene Sein schließt das Dasein der anderen aus. Dies war die Überzeugung, der Glaube und Wahn der Nationalsozialisten hinsichtlich der Juden. Es war jedoch auch der Glaube der Puritaner gegenüber den Indianern. Indianerfreunde wie John Eliot oder William Penn mußten daher langfristig scheitern. Der Indianer hatte keine Chance. Er blieb Halbmensch, Satan.
Situationsorientierter Genozid meint demgegenüber- Pardon, aber wir sind uns selbst am nächsten. Wenn die anderen in einer bedrohlichen Situation nicht für ihre eigene Erhaltung sorgen können, dann produzieren sie ihren eigenen Untergang. Die anderen können uns gleichgültig sein. Wir haben nichts gegen ihr Leben, aber auch nichts gegen ihren Tod. Ein großer Kontext für situationsorientierten Völkermord war der Kolonialismus. Das Kolonialzeitalter bezeugt, daß situationsbedingter Genozid auch häufig aus materiellen Motiven erfolgt. Beim Zugriff auf Ressourcen ist das Leben anderer Menschen hinderlich; sie werden kaltblütig eliminiert bzw. ihrer Lebensgrundlagen, Lebenswelt beraubt.
Im Gegensatz zu vorangegangenen Jahrhunderten erwies sich in unserem Säculum die Öffentlichkeit sensibler, reagierte zumindest mit Protest gegen Völkermord oder Völkermordabsichten. Nach wie vor aber weniger beachtet bleibt der - wie ich ihn nennen möchte - Para-Genozid. Die Verlierer der Globalisierung, die an Unterernährung, verseuchtem Wasser, mangelnder medizinischer Versorgung sterben, rechnen sich zu Milliarden. Doch sie werden von der UNO-Konvention nicht erfaßt, da diese in Artikel II die »Absicht« der Gruppentötung betont. Deshalb scheint es dringend geboten, den Völkermord-Begriff zu differenzieren und zu erweitern. Denn, daran gewöhnt, daß der Genozid bloß wesensorientiert ist und insofern der Vergangenheit angehört, zählen wir situationsorientierte Para-Genozide nicht. Das könnte sich bald rächen. Darum sollte das bestehende Völkerrecht erweitert werden, künftig auch situationsorientierten Völkermord einschlie-ßen und dessen Verhinderung fixieren.
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