Bildersturm und Altersweisheit
Kino Arsenal und Italienisches Kulturinstitut widmen Marco Bellocchio eine Retrospektive
Mittlerweile gehört er zu den altgedienten Regisseuren Italiens und zu den meistgefeierten, aber mit seinem bahnbrechenden Debüt »I pugni in tasca« (Mit der Faust in der Tasche) begann Marco Bellocchio seine Karriere 1965 zunächst einmal als Bilderstürmer. Repressive Moral, Scheinheiligkeit, Frömmelei und soziale Fassaden, an denen längst nicht nur der Putz bröckelt, sondern der Mörtel tragender Mauern, waren von Anfang an ein Hauptthema seiner Filme.
Bellocchio findet diese Scheinheiligkeit im Klassendünkel der bürgerlichen Villen und in einer Psychiatrie, die ihre Patienten wegsperrt, statt sie zu therapieren (im schwarz-weißen, mit zwei Ko-Regisseuren gedrehten Dokumentarfilm »Matti da slegare« von 1975, hier in der kürzeren Kinofassung zu sehen). Er spürt sie auf in religiösen Riten, Dogmen und Hierarchien (»L’ora di religione«, Der Religionsunterricht, von 2002), aber auch im revolutionären Elan italo-sozialistischer Kreise (»La Cina è vicina«, 1967), der schnell in Machtspielen und privaten Verflechtungen versackt. Er findet sie in Politik und Medien im Wahlkampfkrimi »Sbatti il mostro in prima pagina« (Knallt das Monstrum auf die Titelseite!) von 1973. Und nicht zuletzt im fehlgeleiteten, selbstherrlichen, gewalttätigen Akt einer radikalen Linken, die mit der Entführung, Aburteilung und Ermordung des italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro ihren eigenen Sündenfall inszeniert (»Buongiorno, notte«, 2003).
Ein Blick ohne Scheuklappen, der Bellocchios Werk noch bis in seine Adaptionen von Kleist (»Der Prinz von Homburg«) und Pirandello (»Enrico IV«) zu einem facettenreichen Prisma der Geschichte und Befindlichkeiten der italienischen Nachkriegsjahrzehnte macht. In seinem neuesten Film, »Bella addormentata« (Dornröschen, wörtlich: Die schlafende Schöne), dient ein in Italien viel diskutierter Fall von gerichtlich genehmigter Euthanasie an einer langjährigen Koma-Patientin zum Anlass, mit den vehement konträren Positionen zu Recht und Unrecht in der Euthanasie-Frage ein weiteres Psychogramm der italienischen Gesellschaft zu skizzieren. Dass die sich nicht immer mit den Filmen des Regisseurs identifizieren mochte, zeigte sich 1986 mit dem Rauschen im feuilletonistischen Blätterwald, den Bellocchios Neuverfilmung von Raymond Radiguets Sexualroman »Teufel im Leib« auslöste.
Bellocchios Version dichtet Radiguets Erzählung von 1921 um in die Geschichte der Braut eines inhaftierten Linksradikalen, die einer leidenschaftlichen Amour fou zum minderjährigen Sohn eines Psychiaters nachgibt. Der Film wurde zum Skandalfall - vordergründig wegen einer real vor der Kamera stattfindenden Sexszene (für einen ähnlichen Akt erhielt Kerry Fox wenige Jahre später bei der Berlinale einen Goldenen Bären). In Italien nahm man Bellocchio aber vor allem die federführende Mitarbeit seines langjährigen Psychiaters an Drehbuch und Set übel. Als ferngesteuert und fremdbestimmt wurde er von der italienischen Presse gegeißelt - ausgerechnet Bellocchio, der Befreier vom blinden Gehorsam gegenüber Autoritätspersonen und Institutionen. Die Karriere seiner niederländischen Hauptdarstellerin Maruschka Detmers dürfte der bei aller Körperlichkeit merkwürdig verquaste Film auch wenig gefördert haben.
Die begleitenden Worte, die Bellocchio beim Filmfest in Venedig letztes Jahr einer neuen, kürzeren Schnittfassung seines Internatsfilms »Nel nome del padre« (Im Namen des Vaters) von 1971 mitgab, könnten so oder ähnlich aber trotzdem für seinen ganzen Werdegang stehen: »Ich hatte das Bedürfnis, die Bilder freizulassen, sie vom niederdrückenden Gewicht der Ideologie zu befreien.« Weg von Brecht und seinen Distanzierungsmechanismen, hin zu Jean Vigo und der schlafwandlerischen Subjektivität seiner Filmbilder - es ist eine filmische Selbstbefreiung durch politische Aufklärung, Psychoanalyse und Traumbilder, die Bellocchio betreibt, und sie zielt auf eine Befreiung aller Menschen von sozialen, politischen, religiösen und ideologischen Kandaren. Dass er dabei nicht nur Aufklärer ist, sondern diese Aufklärung zugleich aus seinem sehr persönlichen lebensanschaulichen Blickwinkel betreibt, macht seine Filme ästhetisch sperriger, kontroverser, interessanter.
Wärmer ist Bellocchio geworden mit den Jahren. Das rohe, wütend anarchische Aufbegehren gegen jede (Klein-)Bürgerlichkeit seines einst der römischen Filmindustrie vor die Füße geschleuderten »Mit der Faust in der Tasche« ist einer nachdenklichen, ironischen, oft sehr warmherzigen Haltung gewichen. Die findet sich in kurzen Momenten einer glücklicheren Utopie am Ende von »Buongiorno, notte« oder im vergleichsweise milden Irrwitz der angestrebten Heiligsprechung der Mutter des Helden (und überzeugten Atheisten) in »L’ora di religione«. Nicht mehr nur um Polarisierung geht es Bellocchio heute, sondern auch um Gespräch und Aussöhnung zwischen den politischen Polen. Zu den ersten beiden Abenden der Retrospektive, zur Vorführung seines Debütfilms und seines neuesten Werks, wird Marco Bellocchio in Berlin anwesend sein.
5.-31.10., Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, Kartentel.: (030) 26 95 51 00, Filminfo www.arsenal-berlin.de
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