Radikal überflüssig
„Die radikalislamische Hamas hat Raketen auf den Süden Israels abgefeuert", meldet AFP über die neuesten Angriffe in Nahost. Doch - absichtlich oder nicht - prägen die Nachrichtenagentur und Andere mit Nachrichten wie dieser auch unser Bild vom Islam.
Die Formulierung wiederholt sich täglich: Vom „Mordversuch radikalislamischer Aufständischer" in Afghanistan berichtet am Montag das Hamburger Abendblatt. An den Sturz der „radikalislamischen Taliban" erinnert am Dienstag Der Standard. Angriffe einer „radikalislamischen Gruppe" in Timbuktu meldet die Neue Züricher Zeitung am Samstag. Deutschland-Radio berichtet vergangen Freitag, dass sich die „radikalislamische Hisbollah" zum Drohneneinsatz über Israel bekenne. Und vor einer Woche schreibt AFP: „Die radikalislamische Hamas hat nach einem israelischen Luftangriff vom Gaza-Streifen aus Raketen und Granaten auf den Süden Israels abgefeuert."
Gibt es noch eine andere Hamas?
Warum liefern uns Medien ständig diese Zusatzinformation? Klar: Ein Attribut kann hilfreich bei der Einordnung unbekannter Gruppen in Mali sein. Doch gibt es tatsächlich noch Zeitungsleser, die nicht den religiösen Hintergrund der Taliban kennen? Gibt es vielleicht noch eine zweite gemäßigt-islamische Hamas, von der man die „radikalislamische" Variante abgrenzen möchte? Könnte vielleicht auch eine radikalchristliche Hisbollah die Drohne in Richtung Israel geschickt haben?
Die Attribuierung von „Taliban" mit „radikalislamisch" sollte vermutlich einst der unbekannten paschtunischen Miliz ein für den Leser fassbares „radikalislamisches" Gesicht geben. Die Assoziation: Taliban schlecht, weil „Radikalislam" schlecht. Dass auch die Taliban-Realität aus paschtunischer Tradition, deobandischen Islam, politischem Machthunger und was auch immer komplex ist, macht die Taliban nicht besser, kommt der Wahrheit aber schon näher. Auch die Raketen der Hamas lassen sich leichter im Kontext eines politischen Konflikts erklären, als durch die Auswertung von Prophetenüberlieferungen. Wie groß religiöse, politische und kulturell Anteile jeweils sind, kann lang und breit wissenschaftlich untersucht werden. Sicher bleibt: Wenige Gruppierungen auf der Welt passen in ein Schlagwort.
Alles, nur nicht radikalislamisch
Noch sinnloser wird die Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit der Hisbollah. Denn die ist alles andere als radikalislamisch. Der „Radikalislam" hat es zwar noch in kein wissenschaftliches Lehrbuch geschafft, doch scheint sich ihr Protagonist, dem Wortlaut nach, auf eine radikale Form, also die Wurzel des Islam, zu beziehen. Fundamentalismus wäre der entsprechende theologische Begriff. Aus wissenschaftlicher ist die schiitische Strömung, der die meisten Hisbollah-Anhänger zugehören, aufgrund der Vielfalt ihrer Auslegungsmöglichkeiten allerdings das Gegenteil von fundamentalistisch. Ein Grund, warum einige wahrhaft fundamentalistische sunnitische Wahhabiten die Hisbollah wohl nicht einmal als „islamisch" bezeichnen würden.
Doch das Problem der falschen theologischen Einordnung einer südlibanesischen Miliz durch die nachrichtensprachliche Verwendung des Begriffs „radikalislamisch" taugt vielleicht für eine islamwissenschaftliche Abschlussarbeit, nicht aber für einen Blog-Eintrag. Deshalb zum eigentlichen Problem: Nicht nur charakterisiert „radikalislamisch" mehr oder weniger treffend unterschiedliche Gruppierungen, die mehr oder weniger etwas mit dem Islam zu tun haben. Der andauernde Umgang des Begriffs mit fliegenden Raketen, gesteinigten Frauen und eroberten Landstrichen tut ihm auch selbst nicht besonders gut. Was hängen bleibt, ist ein negatives Bild vom Islam.
Aber gerade vom normalen Islam soll der Begriff doch abgrenzen, mag man einwenden. Das tut er aber nicht. Zum einen ist das Assoziationspotential von radikalislamisch mit islamisch gewaltig. Erst recht für eine Öffentlichkeit, in der „Islam" wie „Radikalislam" zwei gleichermaßen fremde Phänomene sind. Hinzu kommt: Ob die Ursache für Raketen auf Israel nun im „Islam" oder in der „Wurzel des Islam" zu finden ist, ändert nicht das Geringste. Im Gegenteil: Die Botschaft, dass ein Mehr an Islam zu Raketen führt, suggeriert im Umkehrschluss: Nur ein Weniger an Islam löst das Problem.
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