Das Schweigen, die Umwege
Erwin Strittmatters »Der Laden. Zweiter Abend« am Staatstheater Cottbus
Worum geht es in der Lebensgeschichte des Esau Matt, alter ego Erwin Strittmatters? Es ist die Geschichte einer Lebensreise vom Dorfjungen zum Bäcker, vom Kriegsteilnehmer zum Schriftsteller. Eine Geschichte über Erinnern und Vergessen, Schuld und Verdrängung. Die Lust und Qual, eine Geschichte zu haben, in der sich die Zeit spiegelt, in der man gelebt hat.
Der zweite Abend des »Laden« beginnt mit der Heimkehr des Gebirgsjägers Esau Matt in sein Heimatdorf. Aber ist es überhaupt eine Heimkehr? Der Laden ist immer noch da, gewiss, aber ist er selbst noch der gleiche? Der Krieg ist verloren, trotzdem darf man sich wie ein Sieger fühlen, denn die Nazis sind weg. Es herrscht das Chaos, aus dem nun eine neue Ordnung wachsen soll. Nein, weg sind die Nazis nicht, das klingt bei Strittmatter immer wieder an, aber immerhin, sie herrschen nicht mehr. Das Sagen im Dorf haben jetzt die Russen und die Kommunisten. Die Kommunisten waren auf dem Dorf noch nie sehr viele, also müssen sie nun um so lautstärker verkünden, dass mit ihnen die neue Zeit begonnen hat. Alles wird anders, alles wird besser?
Esau Matt beobachtet noch skeptischer als zuvor. Er trägt ein Geheimnis mit sich: den Krieg und was er selber tat. Es klingt wie ein Verhör, was hier aus Aktualitätsgründen in die Inszenierung aufgenommen wurde. »Was hast du denn so gejagt bei den Gebirgsjägern?« - es ist diese Frage, die Esau Matt (Oliver Breite, sehr viel ernster als noch am ersten Abend) höhnisch nachgerufen wird. Die Antwort lautet: »Ich versuchte, ein Mensch zu bleiben.« Ist das ausreichend als Erklärung?
Man merkt dieser Inszenierung an, dass sie sich nicht um unbequeme Fragen zu Strittmatter herumdrücken will. Eine wohl richtige Entscheidung von Regisseur Mario Holetzeck. Aber ist denn der Vorwurf, Strittmatter habe ein dunkles Kapitel in seiner Biografie (die Teilnahme an Vergeltungsaktionen gegen die Zivilbevölkerung) bewusst verschwiegen, überhaupt berechtigt? Was bedeutet der Fakt, dass er nie darüber gesprochen hat, für unseren Umgang mit seinem Werk? Entwertet es dieses?
Dieser Abend ist der Versuch, die »Laden«-Geschichte zu erzählen, trotz der schrillen Misstöne in der Biografie des Autors. Oder füllen diese erst verbliebene Leerstellen aus? Nein, Strittmatter selbst sah sich nie als »positiven Helden« - auch darum opponierte er immer wieder gegen den verordneten Optimismus der DDR-Kulturpolitik, die bereits über seinen »Ole Bienkopp« urteilte, ein »sozialistischer Held« dürfe nicht sterben.
Vom Menschen, seiner Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen, wusste Strittmatter vieles - und er vermochte es, unbeeindruckt von äußerer ideologischer Einflussnahme, davon so zu erzählen, dass er seine Leser erreichte. Wann ist ein Autor ehrlich? Wenn der Mensch offen vor allen seine Schuld bekennt - oder aber wenn sein Werk die Widersprüche, aus denen der Mensch (und also er selbst) gemacht ist, nicht fortlügt, sondern ins Bild setzt? Strittmatters Bücher sind prallvoll von solchen Widersprüchen. Sein Schreiben ist immer vom Kriegstrauma grundiert, es versucht weit mehr, als bloß die eigene Schuld zu bekennen: eine Lehre daraus zu ziehen.
Auf der Bühne vorn flackert es ab und zu. Geschichtsbetrachtung ist immer auch eine Frage der Beleuchtung. Wer steht im Scheinwerferlicht, was bleibt im Dunkeln? Es ist die bekannte Geschichte jener Mühen der Ebene des Nachkriegsalltags, die dann doch immer wieder ihre Fallgruben offenbart. Nach den Nazis kamen die Stalinisten - und in manchem ähnelten sie sich fatal, manchmal war es sogar das gleiche Personal in einer neuen Rolle. Strittmatter hat das mit feinem Gespür für die notwendigen Nuancen erzählt. Ob es nötig war, in Esau Matt gleich alle negativen Seiten Strittmatters hineinzuprojizieren, seinen Jähzorn, die häusliche Gewalt, sei dahingestellt. Solche Szenen (es sind nur wenige) kommen mir vor wie vordergründiger Alibi-Realismus, der offene Türen einrennt, so, als gelte es, eine Festung zu stürmen. Denn wenn wir über Strittmatter in den letzten Monaten etwas hörten, dann doch nur das. Ist das nun das neue Strittmatter-Bild, das das alte einfach durchstreicht? Wäre dies so, würden wir wieder nicht klug aus der Geschichte.
Beharrlich kreist dieser zweite »Laden«-Abend um die Frage, warum Strittmatter über die eigene Schuld nicht sprechen konnte. Er zwingt den Zuschauer dazu, selbst eine Antwort zu geben. Was ist überhaupt Verdrängung? Oft vielleicht nur der zwanghafte Reflex, nicht zurückzuschauen, weil man sonst fürchtet, vor der Gegenwart kapitulieren zu müssen. Warum hat Strittmatter, der so viel über seine Kindheit, Jugend, über seine An- und Aussichten geschrieben hat, über diesen Punkt seiner Biografie so beharrlich geschwiegen? Es gibt viele Antworten darauf, aber eine naheliegende wird seltsamerweise fast immer übersehen: die Scham über das Geschehene. In seinen Briefen an die Eltern hat der Gebirgsjäger im zur Partisanenbekämpfung in Slowenien eingesetzten Polizeibataillon 325, das 1943 zum SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiment Nr. 8 umbenannt wurde, geschrieben: »Eine Bauersfrau, die mit ihrem Kuhgespann auf dem Feld arbeitete, legte die Hand militärisch an ihr Kopftuch, wie sie es bei den deutschen Soldaten gesehen hatte ... Ich werde dieses Bild, solange ich lebe, nicht vergessen. - Stellt euch vor, die Russen wären bei uns eingefallen und Großmutter würde voller Angst so grüßen.« Und nachdem seine Einheit ein Dorf niedergebrannt hat, gesteht er, am liebsten hätte er sich »selber eine Kugel durch den Kopf gejagt«.
Warum also hat er geschwiegen? Weil es zu entsetzlich war, die eigene Schuld zu groß? Vermutlich. Die Brandenburger Politikerin Anita Tack: »Strittmatters Schweigen und Verdrängen war nicht Schweigen und Verdrängen eines Einzelnen mitten in einem Meer von Beredsamkeit, sondern es war das Schweigen in einem Meer von Schweigen. Dieses Meer war ein gesamtdeutsches.«
Vielleicht wollte Strittmatter mit seinem ganzen großen Werk jener Schuld etwas entgegensetzen, über die er ohne den Umweg der Literatur nur schweigen konnte. Die Inszenierung jedenfalls lässt diesen Schluss zu. Wie am ersten Abend des »Laden« wechselt ein folkloristischer Bilderbogen mit jenen sehr viel eindringlicheren Szenen, da Esau Matt allein auf der Bühne steht. Es ist der fortgesetzte Versuch, mit List und Fantasie, auch mit jener großartigen Ironie, die Strittmatter immer zuerst gegen sich selbst richtete, durch den Tag zu kommen, diesem etwas abzugewinnen, das dem Leben dennoch einen Sinn gibt.
Strittmatter war einer von vielen Tausend deutscher Soldaten, die der Krieg zu Verbrechern machte. Der Gedanke ist sicherlich schwer erträglich - vor allem war er das für den Autor selbst. Sein Werk: ein Versuch der Wiedergutmachung, das strenge Exerzitien verlangte, denen er sich unterwarf. Ob das genug ist, muss jeder für sich entscheiden - doch das nicht selbstgerecht fingerzeigend, sondern sich befragend, was wäre, wenn er selbst dieser Strittmatter im Jahr 1943 gewesen wäre?
Nächste Vorstellung: 17.11.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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