Planwirtschaft und Zockerbuden
Wer will was aus der jüngsten Vergangenheit lernen? Anmerkungen zu Geschichtspolitik und Erinnerungskultur
Mein Vater wurde (wie meine Mutter) in Berlin in sehr »einfachen Verhältnissen« geboren. Das war 1909. Guter Schüler, Förderklasse, Freistelle an der Realschule, fünf Semester Gauss-Schule, Ingenieur, Fachgebiet Kalkulation. Und zugleich sehr linker Sozi. 1945 Ortssekretär der SPD mit Büro im Antifa-Heim. Vater und Mutter stimmten 1946 - beide SPD-Delegierte auf dem Vereinigungsparteitag - aus tiefer Überzeugung mit »Ja« und zogen die Lehren aus ihrer wie aus deutscher Politikgeschichte. Für sie war selbstverständlich, dass alles das, was da nun mühsam wieder aufgebaut wurde, nicht denen gehören sollte, deren wirtschaftliches und politisches Handeln Deutschland ruiniert hatte. Es sollte künftig den arbeitenden Menschen gehören, Volkseigentum sein.
Vater wurde Kursant Nr. 46 der Parteihochschule, war 1948 in der Deutschen Wirtschaftskommission für die Kontrolle der landeseigenen Betriebe zuständig und hatte ab Herbst 1949 im neuen Ministerium für Planung eine Hauptabteilung zu leiten, zu der die Bereiche Arbeitskräfte, Löhne, Soziales, Berufsausbildung, Gesundheitswesen und Kultur gehörten.
Ein gutes Jahr später gab er dies Amt auf eigenen Wunsch auf. Auf »Parteiebene« war die FDJ-Gruppe mobilisiert worden, die wegen seiner »Zweifel an der Tatkraft der Jugend« seine Entfernung forderte. In Wirklichkeit flog er (wie andere) aus dem Ministerium wegen seiner SPD-Herkunft und weil er 1945 drei Monate in einem Gefangenenlazarett der britischen Zone gelegen hatte. Hinzu kam, dass sein Konzept vom »progressiven Leistungslohn« der neuen Losung »Normerhöhung steigert den Reallohn« widersprach. Überdies stand der deutsche Ingenieur mit Fachgebiet Kalkulation einigen zur Norm gewordenen Praktiken der »Freunde« leicht skeptisch gegenüber.
Aus dem Ministerialdirigenten wurde der Haupttechnologe und dann der Produktionsleiter des Transformatorenwerks Oberschöneweide, und schließlich war mein Vater Produktionsplaner in den Elektro-Apparate-Werken »J. W. Stalin«. Bis in die 50er Jahre hatte er Offerten des Ostbüros der SPD ebenso abzuwehren wie Anschuldigungen der eigenen Parteiführung. Freunde der Familie gingen ganz in den Westen, Vater nur zu Agitationseinsätzen - für mich war das Familienleben zugleich aufregende Politik- und Wirtschaftsgeschichte mit vielen heißen Debatten.
Die Biografie meines Vaters scheint mir eine für die erste Generation der DDR-Wirtschaftskapitäne typische (die sozialdemokratische) Variante zu sein. Heute kann ich zwar abschätzen, von welcher Zukunftserwartung, welchen politischen Überzeugungen und Feindbildern sie sich leiten ließen, mit welchen fachlichen Voraussetzungen, welchem Lerneifer er und seine Genossen wie Kollegen darangingen, das neuartige Volkseigentum zu verwalten und zu mehren. Doch hätte ich gern mehr gewusst. Vor allem: wie es geschehen konnte, dass sachorientierte deutsche Ingenieure zu Sozialisten und Sachwaltern von Volkseigentum werden konnten.
Dieses Interesse gilt auch der zweiten und dritten Generation der wirtschaftlichen Leiter. Zwar kann ich inzwischen nachlesen, aus welchem sozialen Milieu solche Führungspersönlichkeiten kamen, welchen Bildungsweg sie gingen. Aber ich erfahre nicht, welche Eigenschaften, Kenntnisse, Lebensvorstellungen, Grundsätze, moralische Prinzipien jemand haben musste, der ein solches Imperium wie ein volkseigenes Industriekombinat im Interesse aller - sowohl der vielen Mitarbeiter als auch des Gesellschaftsganzen - zu führen in der Lage war. Welche Interessenkonflikte prägten sie, welche »Innenausstattung« führte sie zu welchen Entscheidungen?
Was ich heute nicht mehr kann: mir von meinem Vater erzählen lassen, wie er die konfliktreichen Jahrzehnte erlebt hat, was ihm Halt gab und wichtig war, worin er die Summe seines Lebens sieht - ich habe da etwas versäumt. Friedrich Mühlberg starb vor 40 Jahren als Frührentner; davor wäre noch etwas Zeit gewesen, ihm die Lebenserinnerungen nachdrücklich abzufordern. Er selbst, wie wohl die meisten seiner Genossen und Kollegen, hielt das nicht für wichtig, fühlte sich eher als Parteisoldat, der einfach seine Pflicht tat. Sie alle haben wohl gar nicht realisiert, dass sie es waren, die Ostdeutschland aus dem Chaos von Zerstörung und zu tilgender Kriegsschuld führten, indem sie eine leistungsfähige Industriegesellschaft aufgebaut haben.
Auf den ersten Blick schien mir in den frühen 50ern in der DDR alles dafür zu sprechen, dass wir aus der deutschen Geschichte das Richtige gelernt haben. Wir haben den »Irrweg einer Nation« (Alexander Abusch) verlassen und die »Lehren deutscher Geschichte« (Albert Norden) beherzigt. Was ich bald aus der (Philosophie)geschichte lernen musste: Seit Anbeginn gab es eine Debatte darüber, ob aus Geschichte überhaupt etwas gelernt werde oder gelernt werden könne. Inzwischen ist auch die DDR Geschichte geworden. Können wir daraus lernen?
Es liegt auf der Hand: Was da zu lernen wäre, hängt von der Interessenlage des Betrachters ab. Wenn angesichts der Bankenkrise auf den »Staatssozialismus« geblickt wird, dann könnten seine Erfahrungen die Vorstellung stützen, dass der Staat die Finanzwirtschaft regulieren und sich selbst als dirigierendes Instrument begreifen müsse. Das Spektrum reicht hier von der Erinnerung an Lenins Nationalisierung der Banken bis zu Merkels zaghaften regulierenden Eingriffen (aber offenbar zugunsten des Finanzkapitals). Es kann auch das Gegenteil aus der DDR-Geschichte gelernt werden: Der Staat muss sich da raushalten und kann die Finanzmärkte ohnehin nicht kontrollieren. Er soll überhaupt nichts Wirtschaftliches regulieren, planwirtschaftliche Systeme brechen bekanntlich zusammen.
Aber vielleicht kann da gar nichts gelernt werden, weil es in der DDR gar keinen Finanzmarkt gab und sie im Kern eine »Produktionsgesellschaft« war? Und, noch wichtiger, weil der größte Teil des produktiven Vermögens staatlich verwaltetes Gemeineigentum war - völlig andere Verhältnisse also, nichts übertragbar aufs Heutige.
Es ist schon klar, dass die Strategen der »Zockerbuden«, wie Sarah Wagenknecht so abwertend die Superbanken nennt, dass die profitorientierten Finanzmanager nichts für sie Brauchbares aus der DDR-Wirtschaftsgeschichte lernen können. Da dient diese Geschichte ihren politischen, medialen und wissenschaftlichen Zuträgern nur als Exempel für die Sinnlosigkeit alternativer Programme und als Bestätigung des Bestehenden.
Unser Blick auf die Vergangenheit hängt davon ab, wie wir die Gegenwart wahrnehmen und welche Zukunftserwartungen wir haben. Und da sind wir ganz optimistisch und sicher, dass künftig nicht die Finanzmanipulateure, sondern am Gemeinwesen orientierte Strategen der Realwirtschaft den Ton angeben werden, die eine solidarische und nachhaltige Ökonomie anstreben. Die darum auch auf andere geschichtliche Erfahrungen zurückgreifen werden als egoistische Profitjäger, die darum dann alle früheren Akteure solidarischen und bedürfnisorientierten Wirtschaftens zu ihren Vorläufern im Geiste zählen werden. Darum könnte es Sinn machen, deren Tun und Lassen als geschichtliches Wissen zu bewahren.
Ist unsere optimistische Erwartung begründet? Vielleicht schon, wir fühlen ja, dass wir am Anfang einer »Übergangskrise« stehen und dass der »Kapitalismus, wie wir ihn kennen« (Elmar Altvater) sie wohl nicht meistern wird, dass also Praktiken sich als nötig erweisen, die so gar nicht zu dem heutigen Finanzmarkt-Kapitalismus passen. Und da sollten wir in der ostdeutschen Geschichte auf Fingerzeige stoßen?
Nun war die DDR gewiss nicht die Welt, aber im Winzigkleinen stand sie vor sehr ähnlichen »Problemen«. Denn heute ist ja auf zunehmende Ressourcenknappheit zu reagieren wie auf den Rückgang der Arbeitskräftezahl. Den ökologischen Herausforderungen, der Gefährdung unseres Lebensraumes muss ebenso begegnet werden, wie mit den wachsenden zivilisatorischen Ansprüchen der Menschen in den aufstrebenden Weltgegenden gerechnet werden muss. Und wir brauchen wirksame Konzepte, der wachsenden sozialen Ungleichheit zu begegnen und den sozial Abgehängten in Europa ein anständiges Leben zu ermöglichen. Wir alle müssen uns darüber verständigen, wie wir unseren Planeten lebenswert erhalten und unser Verhalten entsprechend einrichten.
Das erinnert mich sehr an die knappste Definition, die Marx für den Kommunismus gegeben hat: Er ist eine Vereinbarung über die gemeinsam zu befriedigenden Bedürfnisse. Wie schwierig es ist, eine solche Vereinbarung herzustellen, zeigt die »Geschichte des realen Sozialismus«. Und die wird zu einem spannenden Erfahrungsfeld, wenn nicht mehr auftragsgemäß erforscht wird, warum Sozialismus unmöglich ist, sondern gefragt wird, wie eine solche »Vereinbarung« mehr oder weniger erfolgreich praktiziert worden ist.
Für die Auflösung der Systemkrise liegen bekanntlich recht unterschiedliche Angebote vor, aber alle haben eine starke historische Komponente. Am ganz linken Flügel wird das Credo der vor 500 Jahren geschlagenen Bauern aufgenommen: »Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsre Enkel fechten's besser aus.« Da wird dann die Revolutionsgeschichte »ausgewertet«. Nach den beiden gescheiterten Versuchen von Pariser Kommune und Oktoberrevolution sei nun der dritte Anlauf fällig: »die Selbstregierung der Produzenten wird die Profitwirtschaft durch Gemeinwirtschaft ersetzen«. Letzteres übrigens ein Marx-Zitat, doch nicht alle Neuerer mögen Marx so revolutionär interpretieren.
Wir wissen nicht, wie es ausgeht und ob sich tatsächlich gemeinwirtschaftlich orientierte Kräfte durchsetzen. Ungünstig wäre es in jedem Falle, wenn dann frühere Versuche zu alternativem, zu solidarischem Wirtschaften aus dem sozialen Gedächtnis verschwunden wären. Darum ist es verdienstvoll und ein würdiger Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur, wenn Diejenigen, die das unter ihren speziellen - und so ganz sicher nicht wiederkehrenden - Bedingungen getan haben, zu Wort kommen und ihre Erfahrungen festgehalten werden.
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