Lebensmittel aus der Tonne
Ohne Geld existieren: Dem Berliner Raphael Fellmer gelingt das seit Januar 2010
Der Frühstückstisch der Wohngemeinschaft ist reich gedeckt. Unterm Dach des Friedenszentrums Martin-Niemöller-Haus in Berlin-Dahlem gibt es Müsli und Joghurt, Bananen und Brot. Raphael Fellmer hat keinen Cent für diese Lebensmittel ausgegeben. Er hat sie aus Abfalltonnen von Geschäften gefischt. Frische Ware in den Korb legen und an der Kasse bezahlen, das könnte er gar nicht. Seit Januar 2010 leben er und seine Freundin Nieves ganz bewusst ohne Geld. Angefangen hat es mit einer Reise von Holland nach Mexiko. Das war ein Versuch, ein gelungenes Experiment.
Die Verbrauchsdaten der Lebensmittel aus der Tonne sind abgelaufen. Das Essen ist aber noch gut. »Wir ernähren uns besser, als es die meisten Menschen können oder wollen«, versichert Fellmer. Denn der 29-Jährige holt ausschließlich Bioprodukte. Ihm geht es darum, Lebensmittel zu retten. Aber das ist nicht alles.
Regelmäßig verdirbt ein Drittel der weltweit erzeugten Nahrungsmittel, weiß Fellmer. Theoretisch müsste niemand hungern. Es wäre genug da für sieben Milliarden Menschen und sogar noch für viel mehr. Doch wenn sich mit Essen kein Preis mehr erzielen lässt, wird es lieber vernichtet. So, wie die Weltwirtschaft derzeit funktioniert, ist das ökonomisch zwangsläufig und gleichzeitig ökologisch Irrsinn.
Streik gegen Profit und Konsum
Fellmer weigert sich, bei diesem Spiel mitzumachen. Er spricht von einem Konsumstreik. Indem er selbst Geld ablehnt und andere dazu ermuntert, ihm das nachzumachen, möchte er die zerstörerische Logik des Profits durchbrechen, die Grundfesten dieses Systems erschüttern und den Weg für eine andere Welt freimachen. Das wäre dann eine Erde, auf der die Ressourcen geschont werden und auf der glückliche Menschen in Frieden leben, weil sie nicht dem Gewinn nachjagen, nicht bis zur Erschöpfung monotone Arbeit verrichten, sondern sich je nach ihren Fähigkeiten kreativ und gemeinsinnig betätigen. Wo sie ihren dann bescheidenen Bedarf an Lebensmitteln, Kleidung und anderen Gütern nicht selbst befriedigen können, da tauschen sie. Für die Benutzung des Computers, der dem Nachbarn gehört, kann man ihm auch das Unkraut jäten.
Auf den ersten Blick scheint die Idee verrückt. Ohne Geld geht es doch nicht in einer modernen Gesellschaft und es können sich nicht alle Menschen von weggeworfenen Speisen ernähren. Irgendwer muss doch Nahrung im Laden bezahlen, damit sie überhaupt erzeugt und verkauft wird, damit Leute wie Raphael Fellmer sich das Weggeworfene holen können. Sein Lebensentwurf kann kein Modell für alle sein, oder? »Doch«, sagt der Berliner.
So leicht gibt er sich den Argumenten seiner Kritiker nicht geschlagen. Natürlich sollen nicht alle Menschen von geretteten Lebensmitteln leben. Das ist nur Fellmers Ausweg für die Übergangszeit, die Tage, Wochen und Jahre des Konsumstreiks. In der glücklichen Zukunft werden Gemüse, Getreide und Kartoffeln angebaut, ohne Gedanken an den Profit - in ausreichendem Maße. Es gibt dann weder zu viel noch zu wenig davon.
Das ungebremste und gefährliche Wirtschaftswachstum wäre allerdings Geschichte. Technischen Fortschritt würde es trotzdem geben. Er wäre darauf gerichtet, Verfahren zu entwickeln, die die Umwelt schonen. »Unsere Gesellschaft ist heute von Wachstum wie von einer Droge abhängig«, meint Fellmer. »Das Wachstum beruht aber auf Sklavenarbeit insbesondere in der Dritten Welt und auf Raubbau an der Umwelt. Das lehne ich ab.« Mit ihm tun es auch andere. Raphael Fellmer ist nur der in Deutschland bekannteste Kopf einer Bewegung von Menschen, die bewusst ohne Geld leben.
Denn die Menschen wollen nichts Böses
Fellmer vertraut darauf, dass auch jene Mitmenschen, die sich noch nicht dazu entschließen, für seine Idee gewonnen werden können. »Denn die Leute wollen eigentlich nichts Böses. Sie wollen keinen Krieg, sie wollen keine Umweltzerstörung und keine Tierquälerei.« Es fehle ihnen nur die Einsicht, wie das wirklich zu verhindern wäre. So glauben viele, es genüge völlig, Bioprodukte unverpackt zu kaufen und im Stoffbeutel nach Hause zu tragen. Dann hätten sie alles Mögliche für die Umwelt getan. Doch dies reiche längst nicht aus. Spätestens an dieser Stelle berichtet Fellmer von virtuellem Wasser und grauer Energie. Zahlen sprudeln nur so aus ihm heraus: Lediglich 120 Liter Wasser benötigt ein Mensch täglich zum Trinken und Waschen. Doch stolze 5000 Liter werden für die Lebensmittel verschwendet, die er in dieser Zeit verzehrt. Denn allein 16 000 Liter Wasser sind erforderlich, um ein Kilo Rindfleisch zu erzeugen. Natürlich trinkt das Vieh nicht so viel. Aber es wird immens viel Wasser im Stall, auf dem Schlachthof, beim Transport und im Geschäft eingesetzt.
Im Wissen darum steht für den Familienvater fest: Es bringe wenig, beim Einseifen unter der Dusche oder beim Zähneputzen zwischendurch das Wasser abzustellen. Einen ungleich größeren Effekt hätte es, sich nicht nur vegetarisch, sondern gleich vegan, also auch ohne Milchprodukte, zu ernähren.
Ähnlich verhält es sich mit der Energie. Die Produktion nur eines Autos verschlingt so viel davon, dass es für eine Familie 15 Jahre lang reichen würde, wenn sie auf ein solches Fahrzeug verzichtet. »An jedem ausgegebenen Euro hängen 1000 bis 1500 Watt«, erläutert Fellmer - und da ist er wieder beim Geldstreik und seinen Gründen dafür.
Praktisch funktioniert der Verzicht auf Geld, weil Raphael, Nieves und ihre kleine Tochter Alma Lucia derzeit in dem Haus leben, das Pastor Niemöller ab 1931 bewohnte, bis ihn die Nazis 1937 ins KZ Sachsenhausen verschleppten. Das Haus ist ein Friedenszentrum. Die evangelische Gemeinde stellt es seit 1980 Gruppen zur Verfügung, die sich dem Frieden, der Solidarität und der kirchlichen Jugendarbeit widmen.
Raphael und Nieves zahlen keine Miete. Stattdessen pflegen sie den Garten, putzen die Räume, helfen im Büro und geben Seminare zum Thema Nachhaltigkeit. Beim Geld machen sie seit der Geburt der Tochter eine Ausnahme: Als fürsorgliche Eltern kassieren sie nun doch das Kindergeld und bezahlen davon eine Krankenversicherung.
Nächstes Jahr wollen sie auf einen alten Bauernhof in Italien ziehen, weil sie das Land lieben und sich mit Gleichgesinnten unter den günstigen klimatischen Bedingungen des Südens den Traum von der ökologisch korrekten Selbstversorgung erfüllen wollen. Alte Solarzellen, die noch gut sind, haben sie sich schon organisiert.
Raphael Fellmer ist in den Westberliner Stadtbezirken Charlottenburg und Zehlendorf aufgewachsen. Der heute 29-Jährige stand kurz vor einem Hochschulabschluss im Fach European Studies. Ihm fehlte nur noch ein einziger Test. Doch der »Lappen«, wie er das Zeugnis nennt, war ihm dann nicht mehr wichtig. Er begab sich auf eine Reise von Holland nach Mexiko, eine Reise ohne Geld. Seitdem verzichtet er ganz bewusst auf das Zahlungsmittel. Sein Konsumstreik und die Berichte darüber sollen helfen, die Welt besser zu machen. Schon oft wurden im Fernsehen und in Zeitschriften Beiträge über Fellmers Selbstversuch gebracht. Er ist der wohl bekannteste Kopf einer Bewegung von Menschen, die auf Geld verzichten. Raphael Fellmer plant, seine Vorstellungen, die Beweggründe und die bisherigen Erfahrungen in einem Buch zusammenzufassen. Hier, im Bild, zeigt er aus der Abfalltonne gerettete Bioprodukte.
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