Akte der Verweigerung
Romeo Castelluccis Werk beschließt das Festival »Foreign Affairs«
Mit einem so verstörenden wie aufwühlenden Gastspiel fand der erste Durchgang des neuen Festivals »Foreign Affairs« im Haus der Berliner Festspiele sein Finale. Zu danken ist es Regisseur Romeo Castellucci aus dem italienischen Cesena, seiner Gruppe Societàs Raffaello Sanzio und einem imposanten Anhang an koproduzierenden Einrichtungen. Gewaltig ist auch das Thema, dem Castellucci mit seiner Trilogie »The Four Seasons Restaurant« nachforscht. Anregung und Titel hat er sich bei dem US-amerikanischen Maler Mark Rothko geholt: Keines der Bilder, die Rothko im Auftrag jenes New Yorker Nobelrestaurants gemalt hat, gab er frei, weil er das Lokal als zu bourgeoise empfand. Wie sich der Maler verweigerte, zog sich der Legende nach einst auch der sizilische Philosoph Empedokles aus einem für wertlos gehaltenen Leben zurück: mit dem Sprung in den Ätna.
Literatur ist dies Sujet bei Hölderlin geworden; indes konnte er nur zwei der geplanten fünf Akte vollenden, dies in drei Fassungen, von denen alle eher philosophisch-ästhetisches Sprachgefunkel sind denn Theater mit blutvollen Charakteren. Insofern verweigert sich auch der Dichter dem Theaterautor, stellt Überlebenkönnen in einer feindlichen Umwelt an sich in Frage. Castellucci, als ursächlich bildender Künstler für die Arbeit an Grundfragen bekannt, addiert als weitere Ebene Astrophysik: den in für uns wahrnehmbare Tonsignale übersetzten Klang eines Supermassiven Schwarzen Lochs. Mit dessen ohrenbetäubendem Lärm, ein Dokument der NASA, beginnt im völlig abgedunkelten Theater das Stück. Klinisch weiß ist der Raum, den dann der Vorhang freigibt, mit Sprossenwand, Kasten, Reifen vielleicht ein Gymnasion. In Einheitsdress aus Langkleid, Schürze treten wie Internatsschülerinnen einzeln Frauen ein, schneiden sich jammernd die Zunge ab, fassen sich zum Kreis, derweil ein Hund über die Szene schnuffelt und, so die Information, jene Zungen verspeist. Mit der Zunge Hölderlins zelebrieren sie dann in dezidierter Langsamkeit und immer wieder mit antikisierenden Pathos-Posen Ausschnitte des Dramentextes, durchschreiten den Raum, finden sich in Pietà-artiger Skulptur, wenn Panthea von ihrer Neigung für den geschmähten Philosophen spricht. Auch männliche Parts, weitere Verweigerung und höhere Künstlichkeit, werden von den zehn Darstellerinnen gespielt, jedoch ohne eine Rollenzuweisung: Jede kann jede Figur sein, einander bisweilen auch doppelnd.
Als klar ist, dass Empedokles, der die Königskrone ablehnte und sich im Naturüberschwang Gott wähnte, gerichtet werden muss und die Holzschuhe der Frauen aufgereiht stehen, fällt ein Schuss aus goldenem Revolver: Ein Leiberklumpen gebiert so lange Tote, die nackt die Szene verlassen, bis auch die letzte Figur sich dem Sterberitual unterzieht. Da verweigert sich selbst der Text und kommt, wie schon mehrfach, nur noch dumpf tönend vom Band. Alles Weitere ist Technikzauber. Wieder klingt aus dem Äther der Sound des Schwarzen Loches; »Verlass mich nicht«, fleht die Schrift auf dem Vorhang; als der kurz weicht, wird der Kadaver eines Gauls sichtbar; als der Vorhang sich hebt, gibt dahinter bühnenfüllende Folie ein grandioses Bild frei. Nebel, als Ätna-Ausbruch, Atompilz oder Universumsgewaber, strömt aus einem Punkt, dreht wild, zersplittert des Empedokles Flehen, kocht, gärt, brodelt. Hinter dieser Ursuppe oder Lava schwenkt eine Fahne, wächst eine weiße Wand mit totem Frauengesicht auf, Jesus, Maria oder Empedokles, vor dem Nackte anbetend tanzen. Den Materialberg, wie er hinter der Folie emporwächst, deckt musikalisch Wagner mit Isoldes Liebestod zu. Lange sinniert man über Castelluccis Endzeitvision, über Nutzen und Recht einer Verweigerung.
So fulminant ließ Kuratorin Frie Leysen ihr auf gut vier Wochen konzentriertes, 22 Produktionen umfassendes Festival enden, das die sich über mehrere Monate erstreckende, langjährig verdiente spielzeit’europa ablöste. Ein Mehr an Zuschauern bescherte den »Foreign Affairs« diese Verdichtung, steckte den Rahmen über Europa hinaus und bot Künstlern aller Genres aus Afrika, Asien, Lateinamerika ein Podium. Und bezog als zusätzliche Spielorte Sophiensaele, Ballhaus Ost, Wasserspeicher ein, was offenkundig ein neues Publikum gewinnen half. So konträr die ästhetischen Positionen klaffen mögen, zwischen Anne Teresa De Keersmaekers Mittelalter-Vision, dem Technik-Exzess des Boris Charmatz, einem Magier wie Castellucci und Rodrigo Garcías unerträglichem philosophisch-theologischem Quartett auf einem Boden ganz aus Hamburgern: Informativ bis anregend sind fremde Auffassungen allemal.
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