Auf Durchfahrt in Sachsen-Anhalt
Magdeburg ohne ICE, Chemnitz ohne Fernzug und Leipzig vielleicht bald außer Takt: Die Bahn hängt den Osten ab
Von Jürgen Heyer, einst SPD-Verkehrsminister im sachsen-anhaltischen Kabinett, stammt ein launiges Bonmot mit ernstem Hintergrund. Als die Deutsche Bahn die ICE-Neubaustrecke von Berlin nach Hannover eingeweiht hatte, fuhren Schnellzüge zunehmend an der Landeshauptstadt vorbei und hielten nur noch in der Kreisstadt Stendal. Der Ärger war groß, und Heyer fühlte sich bemüßigt, die Bahn auf den korrekten Namen seines Bundeslandes hinzuweisen: Das heiße Sachsen-Anhalt - »und nicht Sachsen-Durchfahrt«.
Einstellung mit Symbolkraft
Anhalten werden die Züge von Dresden in Richtung Hannover auch ab Dezember noch in Magdeburg - immerhin. Es werden allerdings keine ICE mehr sein. Die Bahn, der es angeblich an Fahrzeugen mangelt, braucht die Züge auf anderen, offenbar wichtigeren Strecken. Durch Magdeburg verkehren statt dessen Intercitys. Der Einschnitt ist für Bahnfahrer womöglich zu verschmerzen und weniger gravierend als die Einstellung der schnellen Direktverbindung nach Berlin, ebenfalls ab Dezember. Er hat aber Symbolkraft: Nach 20 Jahren endet in Magdeburg schließlich das ICE-Zeitalter.
Es dürfte nur schwacher Trost für die Magdeburger sein, dass sie mit diesem Schicksal nicht allein sind. Die Bewohner vieler Städte vor allem im Osten wissen bereits seit Jahren nicht mehr, wie Fernzüge aussehen. In Dessau etwa hat zwar das Umweltbundesamt seinen Sitz. Wer allerdings die Umwelt schonen und Zug fahren will, erreicht Dessau nur per Regionalverbindung. Gleiches gilt für ehemalige Bezirksstädte wie Gera und Chemnitz. Die Stadt in Südwestsachsen, immerhin ein großes industrielles Zentrum, verlor 2006 die letzten Interregio- und IC-Verbindungen. Nach Dresden und Nürnberg verkehrt jetzt ein so genannter Interregioexpress. Hinter dem pompösen Namen verbirgt sich ein dröhnender und dank seiner Neigetechnik regelmäßig zu Übelkeit bei den Passagieren führender Nahverkehrszug.
All das sind keine Einzelfälle. Forscher des Ifo-Instituts untersuchten im Mai 2011 die Fernverkehrsanbindung von 80 deutschen Städten und kamen zu dem Ergebnis, dass »nur wenige Städte im Osten« - genannt werden Berlin und Leipzig - sehr gut oder gut im Vergleich zu Orten im Westen abschneiden. Im Klartext: Magdeburg ist auf Rang 53 bestplatzierte Stadt im Osten und quasi der Einäugige unter den Blinden. Halle liegt auf Rang 67, Jena, Dresden, Rostock sowie Chemnitz und Cottbus finden sich zwischen den Plätzen 74 und 79. Noch abgelegener ist in Deutschland nur Trier.
Weitere Strecken in Gefahr
Verbessern wird sich die Situation nicht - im Gegenteil. Mit sehr gemischten Gefühlen schaut man etwa beim Verkehrsclub Deutschland (VCD) auf die Einweihung der ICE-Schnellstrecke von Berlin nach München via Thüringer Wald, die für 2017 geplant ist. Vom jetzigen Fernverkehrsnetz würden danach »weitere Äste abgesägt«, fürchtet Jan Krehl, der Chef des Landesverbandes Elbe-Saale. So drohten Saalfeld, Jena und Naumburg zunehmend abgehängt zu werden, wenn die Züge nicht mehr durch das Saaletal fahren. Selbst Leipzig könnte aus dem jetzigen ICE-Stundentakt geraten, fürchtet der VCD - weil sich mit einer Streckenführung über Halle weitere kostbare Minuten einsparen ließen.
Für betroffene Städte hat das unschöne Folgen, sagt Krehl: Fehlende Anbindung per Fernbahn sei ein »gravierender Standortnachteil« für Unternehmen und mache Städte weniger attraktiv als Wohnorte. Gleichzeitig verliere die Bahn Kunden. Zwar sei es richtig, dass die Bahn den Wettbewerb mit Auto und Flugzeug annehme. Zugleich dürfe sie sich aber nicht aus der Fläche verabschieden. Der VCD hat deshalb im Sommer ein Konzept vorgelegt. Ziel ist die bessere Anbindung von Thüringen, Sachsen und jenem dritten Bundesland, das Sachsen-Anhalt heißt - und nicht Sachsen-Durchfahrt.
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