Hilfe für 1,50 Euro die Stunde
Kreuzberger Stadtteilmütter laut Studie erfolgreich, aber mit wenig Perspektive
Am oberen Ende der Berliner Wilhelmstraße flanieren Touristen rund ums schicke Brandenburger Tor, am unteren Ende wohnt die Armut. Der Kreuzberger Kiez, der sich mit seinen Mietshäusern bis zum Halleschen Tor zieht, gilt als einer der sozial schwächsten der Hauptstadt, der Migrantenanteil ist hoch. Grundschulen klagen über fehlende Deutschkenntnisse der ABC-Schützen, Jugendämter arbeiten sich an Problemfamilien ab.
Doch seit sich ausgebildete Stadtteilmütter ums Quartier kümmern, ist einiges in Bewegung. Mehr Kinder als früher besuchen eine Kita, viele sprechen besser deutsch. Manche Mütter holen Schulabschlüsse nach. Doch solange Stadtteilmutter kein anerkannter Beruf ist, hat die Idee wenig Zukunft.
Am Anfang wurde das Stadtteilmutter-Projekt zwiespältig aufgenommen. Die einen hatten die überbordende Hoffnung, dass türkische oder arabische Frauen durch ihre kulturellen Wurzeln sofort Zugang zu Problemfamilien finden könnten. Die anderen hielten das für ein hübsches Sozialmärchen.
Wissenschaftlerinnen der Berliner Charité School of Public Health haben sich das Projekt in Kreuzberg zwischen 2008 und 2011 genau angeschaut. In ihrer Studie stellten sie den Stadtteilmüttern nun ein gutes Zeugnis aus. In nahezu 1000 Hausbesuchen haben 67 geschulte Stadtteilmütter zum Beispiel 118 Familien in Krisensituationen geholfen: bei Trennung, Scheidung, Überschuldung oder dem drohenden Rauswurf aus der Wohnung.
Stadtteilmütter werden in der Wilhelmstraße und auch im Kreuzberger Kiez rund um das Kottbuser Tor über Monate in Erziehungs- Sozial- und Gesundheitsfragen unterrichtet. Erst nach einer bestandenen Prüfung dürfen sie Familien besuchen. Dort wenden sie sich gezielt an die Mütter. »Es geht um Unterstützung statt um Drohungen«, erläutert Kreuzbergs Jugend-Bezirksstadträtin Monika Herrmann. Das Wissen um Erziehung sei Eltern nicht angeboren. »Das heißt aber nicht, dass sie sich nicht kümmern wollen.«
Was Kreuzberger Familien gelernt haben, ist in der Charité-Studie beschrieben. »70 Prozent der Mütter setzen ihren Kindern mehr Grenzen als früher«, berichtet Wissenschaftlerin Giselind Berg. Mehr als die Hälfte schränkte den Medienkonsum ein und spielte mehr mit dem Nachwuchs. Vorlesen wurde in vielen Familien zu einem festen Ritual. Logopäden, Nachhilfe und psychologische Beratung kamen ins Spiel.
»Nicht nur die Beziehung zur Mutter, auch die Konzentration, die Sprache und die Schulleistungen vieler Kinder haben sich verbessert«, sagt Berg. Darüber hinaus erfuhren Migrantinnen viel über ihre Rechte und die deutschen Behördenstrukturen - allen voran Jobcenter und Jugendamt. Viele ließen sich bei Schriftwechseln, Telefonaten und Arztbesuchen helfen, einige verloren mit der Zeit Schwellenängste - und belegten Deutschkurse.
Rückschläge gab es trotzdem. Einige Familien fürchteten Tratsch und machten die Tür lieber wieder zu. Manchmal schritten Männer ein, die kein Interesse an pädagogischen Neuerungen im Familienleben und dem wachsenden Selbstbewusstsein ihrer Frauen hatten. »Der Zugang war weniger leicht als erwartet«, resümieren die Wissenschaftlerinnen.
Und noch etwas stimmt nicht: das Geld. Ausgebildete und erfahrene Stadtteilmütter, die alle aus der Arbeitslosigkeit starteten, bekommen in Kreuzberg pro Stunde nur 1,50 Euro - macht im Monat 180 Euro zusätzlich zu Hartz IV. Länger als zwei Jahre dürfen sie nicht im Projekt bleiben. Der ganze Irrsinn der Berliner Bezirksstrukturen wird beim Blick ins benachbarte Neukölln klar. Dort zahle das Jobcenter Stadtteilmüttern für 30 Wochenstunden 975 bis 1060 Euro brutto im Monat, berichtet Projektleiterin Alix Rehlinger.
Das große Ziel in Kreuzberg bleibt deshalb die Anerkennung des Stadtteilmutter-Jobs als Beruf - durch die Senatsverwaltung für Jugend. »Wir sind im Gespräch, Ergebnisse gibt es aber noch nicht«, berichtet Sozialpädagogin Anke Dietrich. Sie hat inzwischen auch drei Männer zu Stadtteilvätern qualifiziert. »Aber alle drei sind nach der Ausbildung wieder abgesprungen«, ergänzt sie. Mit dem Bild des Familienernährers im Hinterkopf wollten sie nicht für 1,50 Euro Stundenlohn arbeiten.
Wenn sich nichts ändert, bleibt von der Stadtteileltern-Idee in Kreuzberg, in die das Jugendamt, der Europäische Sozialfonds und das Jobcenter pro Jahr bis zu 100 000 Euro gesteckt haben, bald vielleicht wenig übrig. Dabei resümieren die Charité-Forscher in ihrer Studie: »Für die frühe Förderung von Kindern sind solche Ansätze unverzichtbar.«
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