Tatsächliche Teilhabe
Warum wir eine aktive soziale Dienstleistungspolitik brauchen
Beim Übergang zur modernen Dienstleistungsgesellschaft ist in den beiden vergangenen Jahrzehnten vieles schiefgelaufen. Zwar ist der Dienstleistungssektor, was Beschäftigungs- und Wertschöpfungsanteil betrifft, mittlerweile dominant. Doch ist er tief gespalten: einige Bereiche, gerade in den wissensintensiven, unternehmensnahen Dienstleistungen in Forschung, Entwicklung oder Beratung, sind von gut entgoltenen und nichtprekären Beschäftigungsverhältnissen geprägt. In anderen Bereichen wie etwa Einzelhandel, Gebäudereinigung und vielen Sozial- und Erziehungsdiensten gibt es hingegen einen hohen Anteil prekärer Arbeitsverhältnisse, niedriger Löhne und schlechter Arbeitsbedingungen.
Viele personenbezogene Dienstleistungen, insbesondere soziale Dienstleistungen, die für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung und für die gesellschaftliche Entwicklung unverzichtbar sind, sehen sich einer gesellschaftlichen Geringschätzung ausgesetzt, die auch das Ergebnis politischer Entscheidungen ist. Seit Langem haben soziale Dienstleistungen viel von ihrer Funktion eingebüßt, soziale Ungleichheit abzumildern und durch einen sozial gleichen Zugang zu Leistungen der gesellschaftlichen Grundversorgung unterschiedliche Einkommensstärken auszugleichen.
Durch eine Politik der Liberalisierung und Privatisierung wurden Dienstleistungsmärkte geschaffen und das Versorgungsprinzip delegitimiert. Dienstleistungen wurden finanzialisiert und betriebswirtschaftlichen Mechanismen unterworfen. Gerade soziale Dienstleistungen leiden unter einer mangelnden materiellen und ideellen Wertschätzung. Die verbreitete Auffassung, dass etwa Kindererziehung oder Pflege »einfache« Tätigkeiten seien, für die es keiner besonderen Qualifikation bedürfe, kombiniert mit der Kürzung öffentlicher Ausgaben und einem verschärften Wettbewerb zwischen öffentlichen, privaten und freigemeinnützigen Trägern, hat dazu beigetragen, dass die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen von vielen Beschäftigten als schlecht bewertet werden. In Bereichen wie den Pflegediensten fand eine Art nachholender Zerlegung der Arbeit in einzelne »Handgriffe« statt, die »abrechnungsfähig« sind. Der Lebenswohlstand der Pflegebedürftigen wie das Berufsethos der Pflegepersonen spielen dabei eine untergeordnete Rolle bzw. werden bewusst ausgenutzt.
Die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen, die schnell wachsende Zahl älterer Menschen, die ungleicher werdenden Lebensverhältnisse zwischen Land und Stadt und die interregionale Arbeitsmobilität führen dazu, dass sich der Bedarf etwa für die Bereiche Gesundheit, Pflege, Kinderbetreuung, hauswirtschaftliche Dienstleistungen, altersgerechte Mobilität enorm erhöhen wird. Aus diesen wachsenden Bedarfen ergeben sich wirtschaftliche Wachstumsimpulse und zusätzliche Arbeitsplätze. Neben diesen volkswirtschaftlichen Aspekten steht die gesellschaftspolitische Herausforderung: Wenn es etwa stimmt, dass für den späteren Bildungsweg neben der sozialen Herkunft vor allem die frühen Jahre entscheidend sind, sollte eine gute Bildungspolitik die Kindergärten und Grundschulen personell und materiell bestens ausstatten.
Insgesamt stellt sich die Frage, wie und für welche Gruppen Leistungen gestaltet werden, welche Rolle Aspekte der Qualität, sowohl der Arbeitsbedingungen als auch der erbrachten Leistungen, spielen und wie ein allgemeiner Zugang sichergestellt werden kann. Der langjährige Vorrang finanzieller Effizienz bei der Bewertung von Dienstleistungen muss mit diesen gesellschaftspolitischen Zielsetzungen konfrontiert werden. Angesichts dieser Konstellation steht die Entwicklung der Dienstleistungsökonomie an einem Scheideweg. Denn es ist ein Irrglaube, dass die rechtlichen Veränderungen der öffentlichen Dienstleistungen und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse spurlos an der Gemeinwohlorientierung, der Sorgebereitschaft und der sozialen Integrationsfähigkeit vorbeigehen würden.
Arbeitgeber wollen Dienstleistungen zu geringen Kosten, private Arbeitgeber zudem möglichst hohen Profit. Kunden wollen Dienstleistungen in guter Qualität und zu niedrigen Preisen. Beschäftige wollen eine gute Leistung zu einem guten Lohn und anständigen Arbeitsbedingungen erbringen. Diese Interessenkonstellationen verlangen nach einer aktiven sozialen Dienstleistungspolitik, die drei Grundsätzen folgt: Dienstleistungsarbeit ist zu wesentlichen Teilen Interaktionsarbeit, Arbeit mit und für Menschen. Ob sie gelingt, hängt entscheidend von Zufriedenheit und Lebensqualität des »Kunden« ab. Arbeit mit und für Menschen kann nur gelingen, wenn die Arbeit und ihre Erbringer angemessene materielle und immaterielle Wertschätzung genießen. Dienstleistungsarbeit ist Interaktionsarbeit, sie lässt sich nicht auf Produkte reduzieren. Dienstleistungsarbeit ist wertvolle und produktive Arbeit. Als Reproduktionsarbeit ist sie nicht nur Voraussetzung für volkswirtschaftliche Produktivität. Entscheidend ist sie auch für sozial und ökologisch verträgliche Wohlstandsmehrung aller Menschen sowie die gleiche und gleichwertige, demokratische Teilhabe.
Durch jahrelange Austeritätspolitik ist eine vermeintliche Selbstverständlichkeit der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft verloren gegangen: ein funktionsfähiger öffentlicher Sektor, der für sozialen Ausgleich sorgt, wirtschaftliche Daseinsvorsorge betreibt, technische Infrastruktur garantiert und einen egalitären, staatlich verbürgten und rechtlich garantierten Zugang zu den Basisgütern einer demokratischen Gesellschaft ermöglicht. Vor diesem Hintergrund belebt sich der gesellschaftspolitische Diskurs: Wer stellt zu welchen Bedingungen für welche gesellschaftlichen Gruppen öffentliche Dienstleistungen bereit? Wie können angemessene Anpassungsprozesse an veränderte soziale Bedarfe, Lebens- und soziale Klassenlagen aussehen? Welchen Preis ist die Gesellschaft hierfür bereit zu zahlen? Unschwer ist zu erkennen, dass es sich hierbei um hochpolitische Verteilungsfragen handelt.
Auftrieb und Rückenwind kommt von vielfältigen lokalen Initiativen, die auf die Wiederaneignung der gemeinsamen, öffentlichen Angelegenheiten setzen. Neues Gemeineigentum und kommunale Unternehmen, dezentrale Genossenschaften und öffentliche Güter zeugen von einer wachsenden Bereitschaft, nicht allein auf private Märkte und marktfähige Nachfrage zu setzen, sondern gerade auch im Bereich der sozialen Dienste Lösungen zu suchen, die den individuellen Bedürfnissen angemessen und gleichwohl bezahlbar sind und den Prinzipien guter Arbeit entsprechen. Dabei geht es immer auch um die Gestaltung von lokalen, kommunalen Bedingungen, in denen es sich gut leben lässt, sei es beim Aufbau von »Energiedörfern«, Pflegegenossenschaften, »Dorfläden« oder Mobilitätscentern.
»Teilhabe« und »Beteiligung« bezeichnen als gängige Begriffe das Begehren, ein Stück Kontrolle und Gestaltungsmacht über die eigenen, lokalen Lebensbedingungen zurückzubekommen. Immer kommt es dabei zu einer neuen Verzahnung von öffentlichem Dienst und dem Engagement von Bürgerinnen und Bürgern. Dabei stellen sich einige Herausforderungen: Die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der Erbringung von Dienstleistungen darf nicht Deckmantel für eine Mangelwirtschaft sein, und die Bürger und Bürgerinnen müssen in ihrem Anspruch auf Selbstbestimmung und -gestaltung ernst genommen werden. Gleichzeitig gilt, dass die Bereitschaft und die sozialen Voraussetzungen für eine aktive Partizipation sozial ungleich verteilt sind. Oftmals bestimmen Angehörige der gebildeten Mittelschichten das Bild und die Anliegen. Auch muss sich die öffentliche Verwaltung als durchlässig für tatsächliche Teilhabe und Beteiligung, sowohl von Beschäftigten als auch von Bürgerinnen und Bürgern, erweisen, und Land und Bund müssen durch eine Reform der Kommunalfinanzen die Ressourcen für eine aktive Dienstleistungspolitik vor Ort bereit stellen. Nur so, gemeinsam sozusagen im Dienste öffentlicher Güter kann angesichts des wachsenden Bedarfs an personenbezogenen Dienstleistungen sich zugleich das menschliche Maß bei ihrer Gestaltung durchsetzen.
Martin Beckmann arbeitet als Referent für Dienstleistungspolitik in der ver.di-Bundesverwaltung.
Horst Kahrs arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu den Schwerpunkten Sozialstrukturanalyse und Politik des Öffentlichen.
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