»Flut« gegen trotzkistischen Medienhai
Aus dem größten Medienskandal der spanischen Linken erwächst dem Land seine erste genossenschaftlich organisierte Zeitung
Erwerbslosigkeit und Armut haben in Spanien enorm zugenommen - politische Aktivitäten aber auch. Ist das also ein guter oder ein schlechter Moment, eine Zeitung auf den Markt zu bringen - eine, die sich dem aktuellen Regime entgegenstellt?
»Diese Frage haben wir uns auch gestellt«, sagt Thilo Schäfer. »Vom Verkaufspotenzial her sind es eigentlich gute Zeiten.« Es ist Mitte September, Schäfer sitzt auf einer Restaurantterrasse im Madrider Stadtteil Lavapiés und wartet auf eine Handvoll Gleichgesinnter, mit denen er die nächsten Schritte bei der Gründung von Spaniens erster Zeitungsgenossenschaft besprechen will. Das selbstverwaltete Kulturzentrum, in dem sie sich treffen wollten, ist überraschenderweise geschlossen. Schon der Mangel an Arbeitsräumen zeigt, wie sehr am Anfang die Genossenschaft »MásPúblico« steht. Dabei waren ihre zukünftigen Redaktionsmitglieder einst auf einem guten Weg. Doch die etablierte und erst 2007 gegründete Tageszeitung »Público« wurde im Februar unter mysteriösen Umständen eingestellt.
Der 42-jährige Deutsche Schäfer war von Beginn an bei »Público« (»Öffentlich/keit«) dabei, als stellvertretender Ressortleiter für Außenpolitik. Vorher war er sieben Jahre lang Korrespondent der »Financial Times Deutschland« in Madrid und London gewesen. Der Konkurs von »Público« kam auch für ihn unerwartet. Das Unternehmen »Mediapubli« sei bankrott, teilte Jaume Roures, einer der Hauptaktionäre, im Januar mit. Die entlassenen Angestellten erhielten weder den letzten Monatslohn noch die gesetzlich vorgeschriebene Entschädigung. Letztere soll ein Ausfallfonds leisten, was bisher aber ausgeblieben ist.
Pikant: Als sich ein Teil der erbosten Belegschaft mit Spenden und Privatkrediten den Zeitungstitel bei der Zwangsversteigerung kaufen wollte, bot die Firma »Display Connectors« viel mehr - und in ihr sind die Mehrheitsaktionäre im Wesentlichen die selben wie bei »Mediapubli«. »Público« macht jetzt als Online-Zeitung weiter, mit einem kleinen Teil der vormaligen Belegschaft.
Für Thilo Schäfer ist das »ein Sanierungsprogramm, wie es ein Großkapitalist nicht besser hingekriegt hätte«. Er sagt das, weil der Medienunternehmer Roures aus einer ganz anderen Richtung kommt.
Jaume Roures war bis in die späten 1980er Jahre bei der trotzkistischen »Liga Comunista Revolucionaria« aktiv, erklärt Pere Rusiñol. Der 40-jährige Katalane Rusiñol war bei »Público« an die Chefredaktion angeschlossener Redakteur für besondere Aufgaben. Davor war er zehn Jahre lang in zum Teil leitender Funktion bei »El País« beschäftigt, in etwa das spanische Pendant zur liberalen »Süddeutschen Zeitung«. Noch 2009 sagte Roures der französischen Zeitung »Libération«, er betrachte seine unternehmerische Tätigkeit nicht als Arbeit, sondern als Aktivismus. »Roures sagt, er denke und handle noch wie früher«, sagt Rusiñol.
Roures ist mittlerweile nicht nur Fernsehproduzent mit zum Teil wertvollsten (und somit teuren) Sportübertragungslizenzen. Er gründete auch Firmen, die viele im Filmgeschäft anfallende Dienstleistungen anbieten, erklärt Rusiñol. Selbst (Co-)Produzent erfolgreicher Kinofilme ist er, etwa von Oliver Stones Film »Comandante« über Fidel Castro, des sehr erfolgreichen spanischen Erwerbslosendramas »Montags in der Sonne« und von drei der jüngsten Filme von Woody Allen. Gelegentlich auch »linke Themen« per Film groß rauszubringen, sei für Roures, so mutmaßt Rusiñol, wohl Teil des von »bestimmten trotzkistischen Strömungen« vertretenen Ansatzes, Strukturen zu infiltrieren, um Hegemonie zu erlangen. Dafür würden dann auch Opfer gebracht - wie »Público«.
Denn objektiv betrachtet ist der Konkurs fragwürdig. »Público« habe bis zum Schluss über 80 000 Exemplare täglich verkauft und online monatlich vier Millionen Besuche gehabt, erklärt Thilo Schäfer. Zudem sprach alles dafür, dass die Zeitung bald die schwarzen Zahlen erreichen würde: Entgegen dem Branchentrend stieg die Auflage und nahmen die jährlichen Verluste ab - seit Jahren; und in politischer Hinsicht gab es erstens an den Kiosken keine Konkurrenz und zweitens mit dem aktuellen Kürzungsregime an der Macht einen Skandalgaranten.
Warum also sollte ein Trotzkist in dieser Situation seine gut gehende Zeitung einstellen? Die ehemaligen »Público«-Leute haben einen Verdacht: Ihre Zeitung war ein Bauernopfer. Demnach habe sie Medieninvestor Roures mit ihrem publizistischen Kurs von Beginn an dazu gedient, sich bei der sozialdemokratischen Regierung Zapatero (2004-2011) anzubiedern, damit er bessere Chancen bei der staatlichen Vergabe lukrativer Fernsehlizenzen - etwa im Sport - hatte. »›Publico‹ war Zapatero gewogen. Wir sind zu sanft mit seiner Kürzungspolitik umgesprungen«, gibt Ex-Redakteur Thilo Schäfer heute zu. Befreundet ist Roures laut Rusiñol mit Zapateros Ex-Staatssekretär Miguel Barroso, dessen Ehefrau Carme Chacón Ministerin unter Zapatero war. Zudem haben demnach zwei bekannte Parteileute aus deren Umfeld in die Firma investiert, der nun »Publico« gehört.
Für Pere Rusiñol spielt Roures heute »in der Liga der kapitalistischen Haie«, selbst beim staatlichen Fernsehen sei er dick im Geschäft. Und die Niederlage von Zapateros PSOE bei den Parlamentswahlen von November 2011 zeichnete sich lange vorher ab. Roures und seine Co-Investoren - darunter sein alter Geschäftspartner Tatxo Benet, der laut Rusiñol der konservativen katalanischen Regionalpartei CiU sehr nahe steht - brauchten »Público« also nicht mehr. Ist das der größte Medienskandal in der Geschichte der spanischen Linken? Rusiñol überlegt zunächst, bevor er bejaht: »Die spanische Linke hat eine leidvolle Geschichte, was Medien angeht. Aber in dieser skandalösen Geschichte ist das wohl der größte Skandal.«
Pere Rusiñol arbeitet nun bei der Satirezeitschrift »Mongolia« mit, eine aus der ganzen Handvoll der von Ex-»Público«-Leuten mit angeschobenen neuen Publikationen. Sie veröffentlichte eine große und quellenreiche investigative Recherche zu den Abläufen im Vorfeld der Einstellung von »Público«. Demnach gab es sehr wohl willige Investoren, als Roures verkündete, er sei pleite und brauche neue Kapitalgeber. Die in Aussicht gestellten Mittel hätten sogar den von Roures angegebenen Bedarf übertroffen. Selbst Bankkredite waren demnach in Reichweite. Doch Roures habe das alles mit seltsamen Entscheidungen abgewürgt. Die Investoren hätten zum Teil erst aus den Medien erfahren, dass »Público« eingestellt wurde.
Thilo Schäfer berichtet, dass die Redaktion bald viel Solidarität aus der Leserschaft erfuhr. Viele Menschen hätten Geld angeboten, wollten einsteigen. Auch die Idee einer Genossenschaft sei vertreten worden. Eine ehemalige Redakteurin sagt gegenüber »nd«, Roures habe sich dagegen mit den Worten gewehrt: »Eher schenke ich die Zeitung der Redaktion.«
Mittlerweile gibt es aber die Genossenschaft »MásPúblico« (»más« bedeutet: »mehr«). Sie hat laut Thilo Schäfer rund 70 Mitglieder, die Mindesteinlage beträgt 1000 Euro. Zweck ist die Herausgabe einer Monats-, langfristig aber einer Wochenzeitung. Deren Name: »La Marea«, »Die Flut«, was auch auf Menschenmassen bezogen sein kann. Bis zu deren Erscheinen betreibt die Redaktion die Online-Zeitung »MásPúblico«. Unter diesem Namen wurden auch mit Spenden zwei Vorabausgaben produziert, die im Mai und Ende Juni gratis in einigen wenigen großen Städten verteilt wurden. Auch »La Marea« wird erst mal nur in Madrid und Barcelona an den Kiosken ausliegen, sagt Schäfer - die Vertriebskosten seien zu hoch. Zumindest in einigen Städten könnten eventuell lokale Unterstützungsgruppen den Vertrieb kostenlos übernehmen.
Auf eine solche Beteiligung der Leserschaft ist das Projekt angewiesen. Das Recht auf Mitbestimmung soll Menschen und deren Geld zu Spaniens erster genossenschaftlich organisierter Zeitung locken. Die Unabhängigkeit der Redaktion gegenüber der Genossenschaft wird dadurch gewahrt, dass die Statuten der Zeitung nur mit Zweidrittelmehrheit geändert werden können, die Redaktion aber stets die Hälfte der Stimmen haben wird - unabhängig davon, dass sie erst mal nur ein halbes Dutzend Vollzeitstellen umfasst. Auch das aufsichtsratähnliche Gremium, das etwa über die Finanzen wacht, wird paritätisch mit redaktionellen und nicht-redaktionellen Genossenschaftsmitgliedern besetzt. Als weitere Gegenleistung für letztere sollen die die Möglichkeit haben, im Internetauftritt von »La Marea« Termine zu veröffentlichen.
Nach einigen Verschiebungen soll »La Marea« nun am 14. Dezember erscheinen.
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