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Der irre Duft von Bratkartoffeln
Birgit Vanderbeke über eine künstliche Wohlstandsgesellschaft, aus der man nur fliehen kann
Ein ungewohnter Geruch, seit langem im Gedächtnis begraben: Während Timon Abramowski die Treppe hochstieg, erinnerte er sich an sein Heimatdorf Hainegg, das längst von der Landkarte gestrichen worden war, an Erde, an Zwiebeln, zum Trocknen aufgehängt. Er dachte an frisches Brot - und an Abraxus, der eine Spritze bekommen hatte, als Hunde und Katzen in die Seuchenverordnung aufgenommen worden waren ...
Um zu verdeutlichen, was sie sagen will, hat Birgit Vanderbeke eine Welt entworfen, die zunächst einem Science-Fiction-Szenario gleicht. Eine Stadt ohne Tiere, in der Ordnung und Hygiene herrschen, wo sich alle von Fertigessen ernähren, das nur noch in der Mikrowelle aufzuwärmen ist, und durch Gewinnspiele im Fernsehen unterhalten werden. Nach den Aufständen der Armen in den USA ist ein seltsamer Sozialstaat entstanden. Alle Bereiche des Lebens sind fortan durch eine ominöse »Stiftung« geregelt. Höchst effizient, eigentlich ohne spürbaren Druck. Niemand hungert. Niemand ist zur Arbeit gezwungen, jeder ist interessiert, durch diverse Tätigkeiten seine ID-Card mit Punkten aufzuladen, weil man sich nur so etwas leisten kann.
Das gilt für »drinnen«. »Draußen«, in »Detroit« jenseits des Zauns, herrscht Gesetzlosigkeit. Dort gibt es keinen Strom und keinen Telefonservice, überhaupt keine Versorgung mit irgendwas. Jule Tenbrock, Abramowskis Nachbarin, gruselte es bei dem Gedanken, dass die hungrige, frierende Frau vor ihrer Wohnungstür offensichtlich von »draußen« kam. Die hatte sogar einen Hund mitgebracht, was »drinnen« streng verboten war. Unmöglich kann Jule das Tier in ihr Wohnzimmer mit dem cremefarbenen Sofa und den cremefarbenen Sesseln lassen. Hier sieht man Birgit Vanderbekes Augen zornig blitzen, aber sie gibt Jule Tenbrock eine Chance. Mitleid: Wenigstens eine Nacht darf Pola Nogueira mit ihrem Hund in der sauberen Wohnung schlafen. Dann muss sie gehen. Wohin?
Nein, die ganze Geschichte soll hier nicht erzählt werden. Timon Abramowski spielt darin eine große Rolle mit seiner sehnsuchtsvollen Erinnerung, wie gut eigentlich Bratkartoffeln schmecken. Die werden eines Tages sogar genussvoll verspeist. Auf dem Dachboden, auch Jule Tenbrock ist dabei. Wo bekommt man in dieser Stadt Kartoffeln her? Und wie bringt man ohne ID-Card ein Kind zur Welt? Bald kommt einem beim Lesen der Gedanke, dass nicht eine beängstigende Zukunft, sondern heutige westliche Wohlstandsvorstellungen gemeint sind. Und dass es wieder um jene Entscheidung geht, die Birgit Vanderbeke für sich selbst getroffen und in mehreren Büchern durchgespielt hat: von »drinnen« nach »draußen« zu gehen, ins Ungewisse, aber mit der Zuversicht, dass durch eigener Hände Arbeit allerhand zu schaffen ist.
Und so gipfelt dieser Roman ebenso in einer privaten Abkehr, auch wenn man eine Zeitlang auf eine größere Veränderung hofft. Dass der Duft von Bratkartoffeln vielen in die Nase steigen möge und die verrückte Lebenslust von Pola und Timon ansteckend wäre. Dass das Echte, das Menschliche, letztlich über das Künstliche triumphiert. Birgit Vanderbeke wird sich ein solches Finale wohl auch gewünscht haben. Sie hätte gern aus dem Unwahrscheinlichen etwas Mögliches gemacht, aber sie wusste nicht, wie.
Birgit Vanderbeke: Die Frau mit dem Hund. Roman. Piper Verlag. 149 S., geb., 16,99 €.
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