Das Herzblut und die Uhr
Pflege alter Menschen bedeutet einen Spagat zwischen Zuwendung und Schnelligkeit
Nur wenige Zentimeter trennen Christentum und türkischen Aberglauben. Das kleine metallene Kreuz tanzt wild, während der blaue Smart über das Kopfsteinpflaster einer Berliner Nebenstraße rappelt. »Das ist mein Begleiter«, sagt Janett Graske. »Vor allem Unheil möge der Herr dich schirmen und stets behüten deine Seele« - der Spruch gefällt der 34 Jahre alten Krankenschwester. Daneben hängen türkische Amulette am Rückspiegel, »blaue Augen«. Sie schützen angeblich vor dem bösen Blick. »Das Auge Allahs«, nennt die Mitarbeiterin des Pflegedienstes der Caritas das Geschenk eines Patienten.
Vor den Mehrfamilienhäusern nahe des hektischen Kottbusser Tors in Kreuzberg stehen Bäume Spalier. »Wie geht's?«, fragt Graske oben angekommen. »Beschissen, schon zwei Tage«, entgegnet die Frau im weiten, ausgeblichenen Schlafanzug mit Blümchenmuster. Im Fernseher läuft der türkische Sender ATV. In gebrochenem Deutsch klagt die 66-Jährige: »Wie Herz schlägt - wie Angst!« Graske horcht auf, das Lächeln in ihrem ebenmäßigen Gesicht weicht einem ernsten Blick. Sie fragt, ob die Seniorin beim Arzt gewesen sei. »Nee, zu weit.«
Die Frau erhebt sich mühsam von ihrem Sitz und schleppt sich zum Sofa, wo sie erneut niedersinkt. Graske misst vorsichtshalber den Blutzuckerspiegel, mahnt, notfalls einen Arzt zu rufen, und vereinbart einen Beratungstermin.
Als die Schwester die Wohnung verlässt, hat sie es eilig. Der Aufenthalt hat deutlich länger gedauert als üblich - mehr als einige Minuten sind eigentlich nicht drin.
Starre zeitliche Vorgaben gibt es für die Pflegedienstmitarbeiter nicht, doch die Kranken- und Pflegekassen zahlen Pauschalen für einzelne Leistungen. In der Pflege wird das Leben in 20 Module aufgeteilt, jedem ist ein Betrag zugeordnet. Für die »erweiterte große Körperpflege mit Baden« bekommt die Caritas 26,08 Euro - egal, wie lang es im Einzelfall dauert. Der immer wieder kritisierte Zeitdruck, bemängeln Anbieter, liegt im System. »Die Mitarbeiter haben das Bedürfnis und den Wunsch, mehr zu tun«, sagt Evelyn Timm. Bei der Caritas Altenhilfe ist sie für Nordberlin und Brandenburg zuständig. »Das birgt auch ein gewisses Frustpotenzial.«
20 Kilometer durch Kreuzberg und Neukölln, fast ebenso viele Besuche, das ist die Bilanz einer typischen Sechs-Stunden-Schicht von Janett Graske. Bei manchen wechselt sie nur einen Verband oder setzt eine Spritze, bei anderen gibt es das Komplettprogramm: Waschen, Anziehen, Frühstück.
Seit 13 Jahren macht sie den Job. »Ich kann mir nichts anderes vorstellen.« Wenn sie über den gesellschaftlichen Stellenwert der Pflege spricht, dann wird ihr Tonfall dringlicher. »Es ist so eine tolle Möglichkeit, zu Hause gepflegt zu werden. Trotzdem wird immer noch eingespart.«
Ein weiteres Wohnzimmer, ins Halbdunkel getaucht. Die zierliche, zerbrechlich wirkende Dame mit dem türkisfarbenen Wollpullover versinkt fast in ihrem tiefen Sessel. Auf dem Sofa hat sie ein regelrechtes Kissenbataillon arrangiert.
Beim Anblick der Pflegerin hellt sich das zerfurchte Gesicht auf. Die Stimme der 86-Jährigen ist dünn und melodisch, ein flüchtiger Singsang. Sie beginnt zu plaudern, will gar nicht mehr aufhören. Janett Graske stellt Fragen, sagt etwas über das Wetter, zieht der Frau Stützstrümpfe an und streicht sie mit vorsichtigen Bewegungen glatt. »Sehen Sie, da geht der Zeh schon raus«, kommentiert die Seniorin mit Blick auf ihre Filzpantoffeln und lacht. »Aber die sind so sehr bequem.«
»Wir haben Fencheltee, da ist Kümmel mit drin und Anis«, sagt sie. Da sitzt Graske schon am Tisch und notiert in einem Ordner, was sie bei ihrem Besuch gemacht hat. Dann verabschiedet sie sich. »Da ist man auch noch Mensch«, hat die Dame den Pflegedienst zuvor gelobt. »Bloß ein bisschen mehr Zeit müssten Sie haben.«
Vor dem Haus stellt Janett Graske ihre Tasche vor den Beifahrersitz des Kleinwagens. »Redezeit ist leider nicht mit berücksichtigt«, sagt sie. Dabei hätten die Leute unglaubliche Geschichten zu erzählen, vom Krieg und der Zeit danach. Ja, manchmal falle es ihr schwer, dass sie nicht länger bleiben kann. Sie lässt den Motor an. Dann schiebt sie schnell einen dieser Sätze hinterher, die auch in einem Lehrbuch stehen könnten: »Da muss man mit ganz viel Fingerspitzengefühl den goldenen Mittelweg finden.«
Die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden, gehört zu ihrem Alltag. »Privat ist privat«, sagt sie, nach der Arbeit schiebe sie die Erlebnisse mit ihren Patienten bewusst zur Seite.
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