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Eingeschränktes Versammlungsrecht
Demonstrationen werden seit jeher von den Herrschenden gefürchtet. Deshalb ersinnen sie immer neue Möglichkeiten, dieses Grundrecht einzuschränken. Wie zen-tral das Versammlungsrecht ist, wissen diejenigen, die fundamentale Kritik an den bestehenden Verhältnissen äußern. Das Bundesverfassungsgericht hat 1985 festgestellt, dass Versammlungen »den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine« bewahren können. Politik und Polizei loben seitdem das Grundrecht - um es im nächsten Schritt bis zur Unkenntlichkeit einzuschränken.
Auch von Petitionen und Unterschriftensammlungen gehen Anstöße aus. Von Versammlungen von Menschen an einem Ort geht jedoch eine Dynamik aus, die Herrschaft infrage stellen kann.
Aktuell verbieten staatliche Ordnungsbehörden vor allem Zelte, Stühle, wärmende Decken und Unterlagen, um es Protestierenden so unbequem wie möglich zu machen. Die Migranten in Berlin vor dem Brandenburger Tor müssen ebenso für das Überlebensnotwendige kämpfen wie die Aktiven von Occupy in Frankfurt am Main, Berlin und anderswo. Sie klagen gegen die Einschränkungen, doch die Rechtswege dauern meist lang. Solidarität vor Ort, öffentliche Wahrnehmung und Unterstützung dienen nicht nur dem inhaltlichen Anliegen der Demonstranten, sondern auch dem Kampf ums Grundrecht selbst.
Eine der ältesten Herrschaftstaktiken ist der Versuch, den Protest zu spalten. Der ordentliche Protest ist tugendhaft, der provozierende aber, dem dann Gewalttätigkeit zugeschrieben wird und der seit Jahrzehnten mit dem Namen »Autonome« und »schwarzer Block« belegt ist, wird verteufelt. Man könnte noch weiter zurückgehen, aber besonders deutlich wurde diese Taktik Mitte der 90er Jahre bei der Auseinandersetzung um die Castortransporte ins Wendland. Die versuchte Spaltung in »gute« und »böse« Demons-tranten verfing allerdings nicht. Die Atomkraftgegner konnten sich bei den Protesten über Tage kennen- und einschätzen lernen. Als die Camps untersagt werden sollten, um den Auswärtigen den mehrtägigen Aufenthalt im Wendland unmöglich zu machen, öffneten die Einheimischen ihre Scheunen.
Mit dem Protest gegen den G 8-Gipfel in Heiligendamm wie zuletzt mit »Blockupy« in Frankfurt sind die Erfahrungen mit der Kooperation in einem breiten Bündnis gewachsen. Man bezieht sich aufeinander und ist sich darin einig, dass Menschen durch den Protest nicht gefährdet werden dürfen. So schwer es manchmal ist, die Haltungen und Ansatzpunkte der »anderen« zu verstehen, man lässt sich nicht auseinanderdividieren. Gelingt dies, wird umso deutlicher, wie gewalttätig der Staat ist. Gewalt in den Mitteln von Schlagstock bis Pfefferspray, Gewalt aber erst recht in der Form von Verboten. Das (versuchte) Vollverbot für Versammlungen in der ganzen Stadt Frankfurt über mehrere Tage im Mai 2012 ist eine der erschreckendsten Erfahrungen.
Auch die neuen Versammlungsgesetze der Länder schränken das Grundrecht ein. Meist werden damit schwammige Begriffe eingeführt, die das Eingreifen ins Ermessen der Polizei legen. Berlin versucht jetzt sogar, die Videoüberwachung von Demonstrationen gesondert zu regeln, da die schwarz-rote Koalition ein eigenes Versammlungsgesetz nicht so schnell zustande bringen würde, das Grundrecht aber schnell einschränken will.
Aber auch diejenigen, die versuchen, ein Versammlungsgesetz zu schaffen, das das Grundrecht schützt, müssen aufpassen. Die Gefahr ist, dass auch sie an der herrschaftlichen Grenzziehung mitarbeiten, die letztlich nur die Spaltung erleichtert. Denn die Einschränkung des Grundrechts beginnt, sowie definiert wird, wie Bürger die Versammlungsfreiheit ausüben dürfen - und wo die Grenzen des Erlaubten sind.
Es kann jedoch legitim sein, Versammlungen nicht anzumelden, keinen Leiter zu haben oder sich zu verkleiden - über das uneingeschränkte Versammlungsrecht entscheiden die Demonstrierenden selbst. Radikaler Protest mit eigenen Ausdrucksformen gehört auf die Straße! Versammlungen müssen stören und aufrütteln, dafür müssen sie an Grenzen gehen oder diese überschreiten. Nur dann gilt das Grundrecht.
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