Abschaffung des Feudalismus
Tarifrunde soll erreichen, dass die 200 000 angestellten Lehrer per Tarifvertrag eingruppiert werden / Ostdeutschland besonders betroffen
Im Juni dieses Jahres erhielt die Sächsische Bildungsagentur ungewöhnlich viel Post. Der Behörde flatterten 6000 Anträge von Lehrern auf die Tische. Darin verlangten sie eine bessere tarifliche Eingruppierung, im Klartext: mehr Geld. Lehrer an Grundschulen wollten nach Gehaltsgruppe E 11 statt E 10 bezahlt werden, ihre Kollegen an Mittelschulen begehrten ein Gehalt nach Gruppe E 13.
Dass solche Anträge notwendig sind, ist Ausdruck eines »vordemokratischen Relikts«. Als solches bezeichnet der ver.di-Bundesvorsitzende Frank Bsirske die Tatsache, dass die Eingruppierung der angestellten Lehrer nicht per Tarifvertrag geregelt ist - im Unterschied zu allen anderen Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Sogar für Baggerfahrer und Binnenschiffer gebe es vertragliche Regelungen, ergänzt Sachsens GEW-Chefin Sabine Gerold. Nur bei den Lehrern - immerhin 200 000 Beschäftigte - regiert die Willkür. GEW-Funktionäre sprechen von »feudalen Verhältnissen«.
Besonders ausgeprägt ist die Willkür in Sachsen. Dort sind Lehrer ausschließlich angestellt, nicht verbeamtet - und sie verdienen so wenig wie in keinem anderen Land. Jahrelang wurde ein Drittel der Lehrer an Grundschulen nach Gehaltsgruppe E 10 statt der üblichen E 11 bezahlt. Von Lehrern an Mittelschulen sind gar nur 41 Prozent in der Gruppe E 13 eingestuft, aber 56 Prozent in E 11. Die Differenz beträgt pro Monat zwischen 430 und 500 Euro - Geld, das Finanzminister Georg Unland (CDU) spart, das den Lehrern aber fehlt. Ab 2013 sollen immerhin 1700 Grundschullehrer besser gestellt werden. Das gestand ihnen unlängst die CDU-FDP-Koalition zu.
Wenn am 31. Januar die Tarifrunde im öffentlichen Dienst beginnt, wird Unland aber über ein grundsätzliches Zugeständnis reden müssen. Sachsens Finanzminister ist mit seinem sachsen-anhaltischen SPD-Kollegen Jens Bullerjahn dann Verhandlungsführer der Länder. Und ver.di hat in Absprache mit der GEW die Frage der Eingruppierung auf die Tagesordnung gesetzt. Sie sei »von besonderer Bedeutung«, sagt Bsirske: »Die Diskriminierung der Lehrer besonders in Sachsen nehmen wir nicht mehr länger hin.«
Bemühungen, den Konflikt zu entschärfen, gibt es seit Langem. Als 2006 der Tarifvertrag der Länder eingeführt wurde, gab es eine Zusage der Arbeitgeber, die Entgeltfrage für die Lehrer zu regeln. Sie wurde in der Tarifrunde 2009 bekräftigt. »Umgesetzt wurde sie aber bis heute nicht«, klagt GEW-Frau Gerold. 2011 habe man sogar kurz vor einer Einigung gestanden - erneut ohne Erfolg. Seither gab es Sondierungsgespräche, zu echten Verhandlungen aber kam es nicht. Am 1. Januar 2012 trat eine neue Entgeltordnung für den öffentlichen Dienst mit entsprechenden Tätigkeitsbeschreibungen in Kraft. Es fehlt eine der größten Gruppen: die der angestellten Lehrer.
Die haben inzwischen die Nase gestrichen voll. Als in Sachsen zunächst im September 15 000 und dann im November sogar 20 000 Lehrer in den Warnstreik traten, habe das Thema Eingruppierung eine große Rolle gespielt, sagt Gerold: »Die Überwindung der Benachteiligung ist den Kollegen sehr wichtig.« Die Frage habe »hohes Mobilisierungspotenzial« - sprich: Die Lehrer sind bereit, dafür auch auf die Straße zu gehen.
Ob das nötig wird, bleibt abzuwarten. Zunächst berät die Tarifgemeinschaft der Länder seit gestern auch über die Frage, ob das Thema noch vor der Tarifrunde entschärft wird. Falls nicht, gehört es ab Ende Januar zur Verhandlungsmasse - könnte von den Arbeitgebern freilich dann auch genutzt werden, um anderswo Abstriche zu machen. Falls es erneut keine Einigung gibt, sei die GEW in Sachsen entschlossen, eine Lösung im Freistaat durchzusetzen, sagt Gerold. Wie es schließlich ihr Kollege Bsirske formuliert: »Wir leben im Jahr 2012 und nicht mehr 1890.«
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