Gnade des Schwachsinns

Lars von Triers »Idioten« im Gorki Studio

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Sehenswert ist dieser Abend durchaus. Bereits im Foyer des Gorki Studios beginnen die jungen Darsteller mit ihrer Idiotenperformance. Einer, im Rollstuhl sitzend, bohrt mit aufreizender Gründlichkeit im Mund herum und streckt den besabberten Finger dann anderen fröhlich entgegen. Ein Mädchen mit starrem Blick sucht - etwas gehemmter - Nähe zu Zuschauern. Einem jungen Mann lässt ein Tick den Kopf seitwärts gedreht ununterbrochen wackeln. Aufmerksam eilt Susanne, eine von Eric Stehfest mit androgynem Charme gespielte Betreuerin, von Schützling zu Schützling, um die Irritationen in Grenzen zu halten. Dass vor der Premierenvorstellung dem Barmann mehrfach das Geschirr scheppernd aus der Hand fiel, mochte man als gelungene Übertragung von Tölpelhaftigkeit bewerten. Auf der Bühne setzt sich dieses Spiel fort. Ohne Barmann. Der war vollauf mit dem Scherbenaufsammeln im Foyer beschäftigt.

Im Studio selbst schienen die Schauspielstudenten der Leipziger Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« durchaus Gefallen gefunden zu haben an verschiedenen Darstellungsformen des aus der Norm Gefallenen. Maximilian Grünewald hüpfte munter im Schlafsack durch die Gegend und ließ das Geräusch von Furzen nach außen dringen. Robin Krakowski probierte den starren Blick aus. Auch Katharina Alf verlegte sich auf quellende Augen. Lina Krüger hingegen experimentierte mit Fallsucht.

An Intensität nimmt dieses Spiel bei Einflussnahmen von außen noch zu und steigert sich in lustvolle Zerstörung. Dann etwa, wenn der Gemeindevertreter kommt, der die Störenfriede gern ins Nachbardorf spedieren würde. Oder wenn ein an der Immobilie des Heims interessiertes Käuferpaar zur Inspektion anreist. Oder eben der Vater eines der Mädchen auftaucht. Die Figuren von außen übernimmt in großer Lakonie meist der Moderator, Musiker und Sänger Lorris Andre Blazejewski. Mit seiner geschmeidigen Stimme und angetan mit einem mit Punk-Einflüssen versehenen Varieté-Kostüm ist er die Entdeckung des Abends.

Dass dennoch ein Hauch von Enttäuschung das Gemüt des Betrachters beschwert, liegt in der Tatsache begründet, dass sich diese virtuosen Spieler vom Kerndogma der Vorlage Lars von Triers entschieden wegbewegen. Deren zentrale These ist schließlich, dass das Idiotentum den letzten Hort der individuellen Freiheit darstelle. Nur so ließen sich gesellschaftliche Konventionen in aller Radikalität überschreiten. Wem also diese Gnade des Schwachsinns nicht von vornherein zuteil wurde, der müsse sie eben spielend erringen. Mit dieser Idee fand sich im Original die Gruppe zusammen. Doch dieser Hintergrund geht bei Schauspielern, die Personen darstellen, die sich ihrerseits als Bekloppte ausgeben, verloren. Und so werden aus radikalen Idioten eben doch nur Narren, die belustigen, manchmal erschrecken, aber niemals an den Konventionen rütteln. Selbst dann nicht, wenn Raphael Käding als enthemmter Anführer der Truppe in von Schneeregen durchwehter Nacht nackt auf die Straße vor dem Gorki Studio springt. Alles schon gehabt, alles schon gesehen, brav umgesetzt, lautet das Fazit.

»Idioten« wird zur dankbaren - von Regisseur und Bühnenbildner Michael Schweighöfer sorgsam eingerichteten - Präsentationsfläche für die schauspielerischen und musikalischen Fertigkeiten der jungen Darsteller. Das ist viel. Und es ist wenig zugleich. Denn diesem sehenswerten Abend fehlt die Grundwut, die ihn erst zu großer Kunst machen würde.

Gorki Studio, 17., 23.12., 2., 10., 14.1., jeweils 20.15 Uhr

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