Im Großen Festsaal am Berliner Molkenmarkt
Vor 40 Jahren wurde der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag unterzeichnet
»Bisher hatten wir keine Beziehungen. Jetzt werden wir schlechte Beziehungen haben und das ist der Fortschritt.« Mit diesen Worten kommentierte der unmittelbar zuvor zum Bundesminister für besondere Aufgaben avancierte Verhandlungsführer der BRD, Egon Bahr, am 21. Dezember 1972 die soeben im Großen Festsaal des Hauses des DDR-Ministerrates am Berliner Molkenmarkt erfolgte Unterzeichnung des deutsch-deutschen Grundlagenvertrages. Mit dieser Vereinbarung erreichte die Ausgestaltung der vertraglichen Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten ihren vorläufigen Abschluss. Alle Folgevereinbarungen zwischen der DDR und der BRD basierten nun auf dem »Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland«. Er war der wichtigste deutsch-deutsche Staatsvertrag bis zum Einigungsvertrag vom 31. August 1990.
Die vertragliche Regelung der deutsch-deutschen Beziehungen ordnete sich in die »Neue Ostpolitik« der sozialliberalen Bundesregierung unter Bundeskanzler Willy Brandt ein, in deren Rahmen Bonn 1970 Verträge mit der Sowjetunion und Polen abgeschlossen hatte. Parallel vereinbarten USA, Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion das Viermächteabkommen vom 3. September 1971 in dem sie den rechtlichen und politischen Status Westberlins regelten. Danach war der Weg zu deutsch-deutschen Verhandlungen frei, in deren Folge am 17. Dezember 1971 das Transitabkommen und am 26. Mai 1972 der Verkehrsvertrag unterzeichnet worden ist.
Mit dem Grundlagenvertrag, der nach Ratifizierung durch die Volkskammer und den Deutschen Bundestag am 21. Juni 1973 in Kraft trat, wurde die Errichtung Ständiger Vertretungen in Berlin bzw. Bonn (2. Mai 1974) ermöglicht, ebenso der Beitritt beider deutscher Staaten am 18. September 1973 in die UNO.
Während Egon Bahr und DDR-Staatssekretär Michael Kohl ihre Unterschrift unter den Vertrag setzten, ging ein Mitarbeiter Bahrs in die Poststelle des DDR-Ministerrates und übergab dort formlos einen Brief seines Chefs. Es handelte sich um den »Brief zur deutschen Einheit«, dessen politische Intention sich aus der Präambel des Grundgesetzes ableitete, in der es hieß: »Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.« Der »Brief« ist zwar von Ostberlin kommentarlos entgegengenommen worden, doch allein die Entgegennahme des Schreibens, das den Grundpositionen der DDR konträr gegenüberstand, war einer der vielen Kompromisse, die eingegangen wurden, um das Gesamtvertragswerk und die europäische Entspannungspolitik nicht zu gefährden.
Der Grundlagenvertrag war ein rechtlich kompliziertes und für den Laien schwer verständliches Gebilde. Er bestand aus dem Vertragstext mit Präambel und zehn Artikeln, zu Vermögensfragen, Familienzusammenführung, zu Reiseerleichterungen, Verbesserungen des nichtkommerziellen Warenverkehrs, zu Post- und Fernmeldewesen, Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten, zur Öffnung weiterer Grenzübergangsstellen etc. In der Präambel gingen beide Seiten von der Fortexistenz zahlreicher unterschiedlicher Auffassungen aus und erwähnten den Dissens in der nationalen Frage. Zum Problem der Staatsbürgerschaft wurde in den dazu abgegebenen Protokollerklärungen deutlich auf die divergierenden Ansichten hingewiesen. Mit dem Vertrag unterstrichen beide Staaten massives Interesse an dem zu Beginn der 70er Jahre einsetzenden Entspannungsprozess. Ohne dieses Dokument wäre die 1975 mit der Schlussakte von Helsinki gekrönte Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa undenkbar gewesen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.