»Es scheint, ich habe mich schuldig gemacht ...«
Die Gründung der UdSSR 1922 - Stalins Rigorosität und Lenins Protest
Im Gefolge des Ersten Weltkrieges zerfielen multiethnische Großreiche in Dutzende kleine Nationalstaaten, so das Osmanische Reich und die Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Es schien, dass auch der im Verlauf von drei Jahrhunderten auf dem eurasischen Kontinent entstandene größte Vielvölkerstaat der Erde, das Russische Reich, ein ähnliches Schicksal ereilt. Die nichtrussische Bevölkerung, die 1913 weit mehr als die Hälfte der 170 Millionen Einwohner zählte, wurde nicht nur wie die russischen Bauern und Arbeiter sozial ausgebeutet, sondern zu dem auch noch national unterdrückt.
Die in der beginnenden russischen Revolution im März 1917 an die Macht gelangte bürgerliche Provisorische Regierung versuchte zunächst allerdings als Interessenvertreter von Großkapital und Großgrundbesitz den Zerfall des Imperiums zu verhindern. Ministerpräsident Alexander Kerenski löste im Sommer 1917 den mehrheitlich sozialdemokratischen Landtag in Helsinki auf, als dieser sich zur höchsten Staatsgewalt Finnlands konstituierte. Zur gleichen Zeit appellierte er an die von der ukrainischen Nationalbewegung geschaffene Zentral-Rada, sich nicht vom »Vaterland loszureißen« und schränkte deren Befugnisse ein. Der einzige machtvolle politische Gegenspieler der »Provisorischen«, die SDAPR (Bolschewiki) stellte indes die nationale Frage neben der sozialen sowie Beendigung des Völkermordens ins Zentrum ihrer Politik, sicherte sich damit landesweit eine Massenbasis und konnte so weitgehend friedlich ab November 1917 die Staatsmacht übernehmen.
Es war vor allem Lenin, der die Sprengkraft der nationalen Frage auch für den eigenen Machterhalt erkannte. Hatte er noch 1903 das Selbstbestimmungsrecht des Proletariats über das der Nationen gestellt, so erklärte er im Mai 1917: »Fürchtet Euch nicht vor dem Recht auf Lostrennung für alle diese Nationen.« Eine Woche nach den Dekreten über Frieden sowie Grund und Boden deklarierte die Regierung der Russische Sozialistische Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) am 15. November 1917 das »Recht der Völker Russlands auf freie Selbstverwaltung, einschließlich der Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates«. Noch im Dezember anerkannte Petrograd, die damalige russische Hauptstadt, die Unabhängigkeit der Ukraine, Finnlands, Polens und Armeniens. Die Lenin-Regierung, das vom Georgier Josef Stalin geleitete Volkskommissariat für Nationalitätenfragen und das 1918 geschaffene Zentrale Muslimische Kommissariat unter Mirsaid Sultan-Galiev hob innerhalb der RSFSR die autonomen Republiken Turkestan, Kasachachstan, Baschkirien, Tatarstan, Jakutien, die Kaukasische Bergrepublik, Dagestan und Krim aus der Taufe. Gebietsautonomie erhielten die Wolgadeutschen, die mongolischen Kalmyken und Burjäten, die finnisch-ugrischen Karelier, Udmurten, Komi, Mari und Tschuwaschen, die kaukasischen Karatschaier, Tscherkessen, Kabardiner, Balkaren, Adygäer und Tschetschenen.
Die gegen die russische Revolution organisierte militärische Intervention der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, der Türkei, Japans und anderer Staaten erschwerte die Umwandlung des zaristischen Völkergefängnisses in einen föderativen Staatenbund. Große Teile Transkaukasiens, der Ukraine und Belorusslands, Sibiriens und des Fernen Ostens gerieten zeitweilig in den Machtbereich der Interventen und Weißgardisten. Dauerhaft entschwand das Baltikum, nachdem die Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen von deutschen Truppen besetzt wurden. 1920 war Russland nur noch mit der Ukraine und Belorussland verbunden. Durch erfolgreiche Militäroperationen der Roten Armee entstanden jedoch prosowjetische Staaten in Aserbaidschan, Armenien und Georgien sowie in den zwei mittelasiatischen Protektoraten Russlands, dem Emirat Buchara und dem Khanat Chiwa. Sie gingen mit der RSFSR durch bilaterale Verträge einen Bund ein. Der X. Parteitag der multiethnischen KPR (B) 1921, der den Übergang vom kriegskommunistischen Regime zur marktwirtschaftlichen NÖP-Gesellschaft beschloss, entschied auch, dass die bisher bewährten bilateralen, föderativen Beziehungen Russlands Grundlage eines neuen Staatsverbandes werden sollten.
Diesen nun sollte Stalin, Nationalitäten-Kommissar und seit April 1922 Generalsekretär der Partei, maßgeblich prägen. Als Verfechter eines zentralistischen großrussischen Einheitsstaates erzwang er den »formellen Eintritt der unabhängigen Sowjetrepubliken der Ukraine, Belorusslands, Aserbaidschans, Georgiens und Armeniens in den Bestand der RSFSR«. Lenin, der infolge seiner schweren Krankheit davon erst Ende September 1922 erfuhr, protestierte, allerdings erfolglos. Das belegen die von ihm am Gründungstag der UdSSR, am 30. Dezember 1922 diktierten, lang geheim gehaltenen Aufzeichnungen: »Es scheint, ich habe mich vor den Arbeitern Russlands sehr schuldig gemacht, weil ich mich nicht mit genügender Energie und Schärfe in die ominöse Frage der Autonomisierung eingemischt habe, die offiziell als die Frage der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bezeichnet wird.« Das proklamierte Recht des Austritts aus der Union sei ein wertloser Fetzen Papier und völlig ungeeignet, Nichtrussen zu schützen vor der Invasion »des großrussischen Chauvinisten wie es der typische russische Bürokrat ist«. Erforderlich seien Zugeständnisse gegenüber den Nichtrussen, um Argwohn zu beseitigen und Kränkungen aufzuwiegen, die ihnen in der Vergangenheit von der Großmacht zugefügt worden seien. Ein Zuviel an Entgegenkommen und Nachgiebigkeit sei besser als ein Zuwenig. Lenin forderte energisch, auf dem nächsten Sowjetkongress wieder einen Schritt zurückzugehen, der »die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken nur in militärischer und diplomatischer Hinsicht bestehen lässt, in jeder anderen Hinsicht aber die volle Selbständigkeit der einzelnen Volkskommissariate wiederherstellt«.
Da dies nicht geschah, kam, was kommen musste: Unter den veränderten internationalen Bedingungen ab 1989 war das Auseinanderfallen der UdSSR kaum mehr aufzuhalten.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.