Es muss stets eine Frage bleiben...
Bestsellerautor Ken Follett über seine Jahrhundertrilogie, Krieg und Frieden und das Geheimnis seines Erfolgs
nd: Sie seien der »größte Storywriter« der Gegenwart, niemand schreibe solche historischen »Blockbuster« wie Sie - so preist Ihr Verlag in Großbritannien Ihre Trilogie an. Was sagen Sie?
Follett: Ich denke, das stimmt. Als ich mit der Trilogie begann, habe ich mich umgeschaut, ob Ähnliches bereits vorliegt. Aber ich fand kein Buch, das eine Geschichte über ein Jahrhundert erzählt, erst recht nicht in einer Trilogie. Natürlich gibt es großartige historische Erzählungen, beginnend mit »Krieg und Frieden« von Lew Tolstoi. Aber die Handlung ist auf einen kurzen historischen Zeitraum begrenzt.
Hat Sie Tolstoi inspiriert?
Er war der Erste, der große Geschichte aus dem Blickwinkel von Menschen erzählte, die diese Geschichte gemacht haben oder in sie hineingerissen worden sind, die hofften und darbten, kämpften und starben. Jeder Autor, der in der Folge historische Novellen verfasste, ist von ihm auf die eine oder andere Art beeinflusst worden.
Gehören zu den Pionieren der großen historischen Erzählungen nicht auch Victor Hugo, Honoré de Balzac und Charles Dickens?
Dickens hatte kein Verständnis für Geschichte. »A Tale of Two Cities« spielt in London und Paris zur Zeit der Französischen Revolution, aber er verstand diese nicht. Für ihn waren die Revolutionäre ein irrationaler Mob, vom Teufel besessen. Die Idee, dass die Rebellion des Volkes legitim war, die Armen und Geknechteten ein hehres politisches Ziel verfolgten, kam ihn nicht. Er hatte kein Gespür dafür.
Dabei hat doch gerade Dickens soziale Missstände meisterhaft beschrieben und angeprangert. Und mit über 200 Millionen verkauften Exemplaren ist »Eine Geschichte von zwei Städten« das meist gedruckte englischsprachige Buch aller Zeiten.
Dickens hat es verstanden, Empathie für die Armen, vor allem die ausgebeuteten Kinder und Frauen zu erwecken - wie auch sein französischer Kollege Hugo. Aber Dickens war kein Geschichtsschreiber. Und Balzacs Novellen spielen in der Zeit, in der er lebte. Aber auch er war sich der Klassenunterschiede sehr wohl bewusst.
Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mit Ihrer Jahrhunderttrilogie Eric Hobsbawms »Zeitalter der Extreme« über das »kurze 20. Jahrhundert« folgen?
Sie vermuten recht. Ich kannte ihn persönlich, mochte ihn sehr und verdanke ihm viel. Ein sehr interessanter, beeindruckender Mann. Er starb vor ein paar Wochen. Ein großer Verlust für die Geschichtsschreibung. Ich war von seinem Buch »Zeitalter der Extreme« sehr ergriffen. Es hat mir in der Tat die Idee zu dieser Trilogie eingegeben.
Wie lange brauchten Sie für den Plot des zweiten Bandes Ihrer Trilogie - für »Winter der Welt«?
Acht Monate für Planung und Forschung, acht Monate für den ersten Entwurf und noch einmal acht Monate zum Überarbeiten.
»Winter der Welt« beginnt in den 20er Jahren. Wie erklären Sie sich das Erstarken und den Aufstieg des Faschismus in Deutschland?
Es waren zwei Faktoren. Zunächst die Große Depression infolge des Wallstreet Crashs, des Schwarzen Freitags 1929. Alle Staaten litten in dieser Weltwirtschaftskrise, aber Deutschland am meisten mit über 40 Prozent Arbeitslosigkeit. In Zeiten sozialer Unsicherheit neigen die Menschen dazu, Extremisten Gehör zu schenken und ihnen zu folgen. In Deutschland zumal, da - und dies wäre der zweite Grund - die deutsche Demokratie noch sehr jung war. Das Parlament zu Kaisers Zeiten war machtlos. Die Deutschen hatten wenig Erfahrung mit Demokratie. Und sie hatten mehrheitlich kein Vertrauen in die 1919 im Ergebnis einer Revolution gegründete Weimarer Republik. Und so glaubten zu viele Deutsche, dass die Nazis ihre Probleme lösen würden.
Es gab Faschisten auch in Frankreich und Großbritannien …
Ja, darüber berichte ich auch im zweiten Band. Großbritannien und Frankreich hatten jedoch bereits eine lange demokratische Entwicklung hinter sich. Daher konnten die Faschisten hier keinen Massenanhang gewinnen. Im Gegensatz zu Spanien, das ähnlich Deutschland keine große demokratische Tradition aufwies, was letztlich Franco zugute kam.
Eine Ihrer Hauptfiguren, Lloyd Williams, ein junger Waliser und Bergarbeitersohn, kämpft als Freiwilliger in Spanien an der Seite der Volksfrontregierung gegen die Franco-Putschisten. Er erlebt in Spanien aber auch das willkürliche Vorgehen von KGB-Leuten, was ihn in seiner prosowjetischen Einstellung erschüttert.
Diese Desillusionierung teilte er mit vielen Freiwilligen in Spanien. Die Unterstützung der Sowjetunion für die Volksfrontregierung in Madrid war gewaltig, das ist unbestritten. Die Sowjetunion war der einzige Staat, der die Volksfrontrepublik moralisch und mit Waffen unterstützte. Das hat Antifaschisten allerorts beeindruckt.
Während meiner Recherchen zum zweiten Band habe ich viel über das Sowjetsystem der 30er Jahre erfahren, was ich bis dahin nicht wusste und mich zutiefst erschütterte. Ich war immer Sozialdemokrat, aber kein Antikommunist; ich hatte in meiner Studentenzeit viele Freunde, die radikale Marxisten waren. Natürlich wusste ich einiges über die Verbrechen Stalins und Berijas, habe sie aber nicht in der Dimension und Perversion überblickt, wie sie sich mir jetzt bei meinen Forschungen zum zweiten Band eröffneten. Ich setze deshalb Faschismus und Kommunismus nicht gleich. Die philosophischen, ideologischen Grundlagen sind zu verschieden, einander konträr. Aber beide Herrschaftssysteme waren mörderisch.
Sie verwenden den Begriff »Spanischer Bürgerkrieg«, den Interbrigadisten ablehnten. Denn auf der Iberischen Halbinsel wurde 1936 bis 1939 die erste Schlacht zwischen Faschismus und Demokratie ausgefochten.
Da haben die Veteranen Recht. Und aus diesem Grund habe ich dem Krieg in Spanien einen bedeutenden Raum im zweiten Band eingeräumt - um dem Leser zu vergegenwärtigen, dass es ein weltweiter Kampf zwischen Demokratie und Faschismus war. Viele Bücher über den Zweiten Weltkrieg, vor allem von englischsprachigen Autoren, sehen diesen lediglich als eine Auseinandersetzung zwischen der angelsächsischen Demokratie und Hitlerdeutschland.
Sie waren zwecks Recherchen zu »Winter der Welt« in Spanien?
Ja, vor allem in Belchite. Denn dort tobte vom 24. August bis zum 7. September 1937 eine Schlacht, die gewissermaßen einen Wendepunkt im Krieg markierte und die Erschöpfung der Kombattanten auf beiden Seiten offenbarte. Belchite wurde vollkommen zerstört; eine neue Stadt wurde in der Nachbarschaft errichtet. Ich spazierte also über das Schlachtfeld, zwischen den Häuserruinen des alten Belchite, über staubige Straßen - und war plötzlich geistig inmitten der Schlacht. Spektakulär.
Sie haben die Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932 erwähnt. Ist die gegenwärtige Krise mit jener zu vergleichen? Drohen die gleichen Gefahren?
Sie sind ähnlich. Und es besteht eine große Gefahr auch heute. In Spanien beträgt die Arbeitslosigkeit 25 Prozent. Das ist viel zu viel. Und dennoch: Die meisten europäischen Staaten heute haben eine feste demokratische Struktur, auch Spanien. Deshalb glaube ich nicht, dass ein Umsturz durch Rechtsextreme heute so akut droht wie in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Auch wenn die 14 Prozent Stimmen, die die rechtextreme Partei in Griechenland bei den letzten Wahlen errang, schon beängstigend sind.
Und wenn man nach Osteuropa blickt, kann man ebenfalls keineswegs beruhigt sein.
Vor allem die Entwicklung in Ungarn bereitet Sorgen. Doch ich denke, die Europäische Union hat einen großen Einfluss auf die osteuropäischen Regionen. Jedes Land, das der EU angehört, erkennt die Vorzüge und Fortschritte der Gemeinschaft. Selbst die europaskeptischen Briten wissen, dass ihr Wohlstand von der EU abhängig ist. Also, ich kann es mir kaum vorstellen, dass die Ungarn - trotz der große Töne spuckenden Rechtspartei Jobbik - aus der EU ausscheren wollen. Und damit sind sie gewissen Normen unterworfen.
Sie schreiben in »Winter der Welt« über die von Oswald Mosley begründete British Union of Fascists und über die Bewunderung von King Edward III. für Hitler. Wie gehen Ihre Landleute mit diesem Kapitel ihrer Geschichte um?
Sie bevorzugen es, dieses nicht zu erinnern. Zumindest viele. Alle Briten waren Antifaschisten. Das stimmt leider nicht. Mosleys Union war sogar ziemlich populär. Lord Rothermere, der ja auch in meinem Buch vorkommt - er hat die Blackshirts, die Schwarzhemden, finanziell und propagandistisch mit seiner »Daily Mail« unterstützt. Ich beschreibe die Battle of Cable Street 1936, eine wichtige Episode in der britischen Geschichte. Die Faschisten wollten durch London marschieren. Dem stellten sich Antifaschisten entgegen. Berittene Polizisten drängten jedoch die friedlichen Demonstranten brutal ab, gegen ein Schaufenster, das unter der Wucht der Leiber zerbrach und viele schwer verletzte.
Sprachen Sie mit Zeitzeugen?
Nein, ich habe Interviews mit Augenzeugen und Betroffenen in den alten Zeitungen nachgelesen. Die britische Regierung hatte damals entschieden, dass der Marsch der Faschisten durch das Gesetz der Redefreiheit gestattet werden muss. Und deshalb hat die Polizei den Schwarzhemden den Weg freigemacht und nicht nur die sich ihnen entgegenstellenden Menschen, sondern auch unbeteiligte Passanten niedergeknüppelt. Letztlich konnten die Faschisten ihren Marsch jedoch nicht fortsetzen. Sie haben sich von dieser Niederlage nie mehr richtig erholt.
Wegen dieser Straßenschlacht?
Weil die Regierung damals etwas sehr Cleveres getan hat. Das muss ich einräumen, auch wenn ich ansonsten die in der Downing Street No. 10 residierenden Herren eher zu kritisieren habe. 1936 wurde ein Public Order Act verabschiedet, womit das Tragen von Uniformen im öffentlichen Raum verboten wurde, außer für Angehörige der Armee und der Polizei. Und was stellen solche dumpfen Typen wie Faschisten ohne Uniform dar? Nichts.
Was wissen die Briten über den antifaschistischen Widerstand in Deutschland 1933 bis 1945?
Wenig. Und das ist einer der Gründe, weshalb ich in »Winter der Welt« über den vielfältigen Widerstand in Deutschland gegen Hitler schreibe. Ich will nicht nur über den Krieg und Geschehnisse berichten, die meinen Lesern mehr oder weniger vertraut sind. Jeder kennt Stauffenberg, weiß vom Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Aber wie viele wissen etwas von der »Roten Kapelle« oder den Swing-Kids?
Sie haben das Verbrechen, für das Auschwitz als Synonym steht, in »Winter der Welt« nicht ins Zentrum gerückt. Warum?
Weil dieses ungeheuerliche Verbrechen sehr bekannt ist. Natürlich ist die Shoah bei mir nicht ausgeklammert. Das ist unmöglich. Aber ich habe den Schwerpunkt bewusst auf andere, weniger bekannte Verbrechen der Nazis gelegt: die Ermordung von Behinderten und die Jagd auf Kommunisten in der Sowjetunion nach dem Überfall Deutschlands 1941.
Wie erklären Sie es sich, dass Sie Millionen Leser haben, obwohl Ihre Bücher über tausend Seiten umfassen und in unserer hektischen Zeit kaum Zeit zur Lektüre solch voluminöser Werke bleibt?
Weil ich versuche, die Leser zu fesseln. Ich will, dass sie, einmal mit der Lektüre begonnen, das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Es muss immer eine Frage stehen bleiben, auf deren Antwort die Leser begierig sind.
Befürchten Sie, dass die E-Books die Printbücher verdrängen?
Nein. Wir wissen zwar nicht, was sein wird. Die E-Books sind noch neu auf dem Markt und zweifelsohne eine schnell wachsende Branche. Und wenn ich sehe, wie meine drei, vier Jahre alten Enkel schon mit dem iPod umgehen können, bin ich mir sicher, dass sie später Bücher am Bildschirm lesen. Was ist daran zu bedauern? Hauptsache ist doch, sie lesen.
Und Sie selber?
Ich bevorzuge Printbücher, habe aber unterwegs immer einen Kindle bei mir. Der Vorteil: Man braucht keine Kiste mit ins Flugzeug zu schleppen. Ich bin überzeugt, das gedruckte Buch wird weiter geliebt. Und auch dieses Jahr werden sich viele Menschen zu Weihnachten Bücher schenken. (Lacht.) Ich hoffe, darunter sind auch einige von mir.
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