»Gescheitert, aber bunt«
Die gespaltene Republik Moldau gilt nach wie vor als ärmstes Land Europas
Es war noch sommerlich in der moldauischen Hauptstadt Chisinau. Valeria Svart wartete seit Stunden vor der deutschen Botschaft. Das Gesicht der 22-jährigen Frau aber strahlte jugendlichen Überschwang aus. Valeria trägt ihre langen, braunen Haare offen. Sie ist in Chisinau geboren, hat hier an der Staatsuniversität Ökologie studiert, bevor sie vor zweieinhalb Jahren nach Berlin wechselte. Das Warten auf ein neues Visum gehört für die Studentin zur Routine der Semesterferien. »Natürlich ist das ärgerlich. Es kostet immer eine Menge Geld und die Zeit könnte ich viel vernünftiger nutzen«, regt sie sich auf. Sie spricht schnell und erzählt gerne ihre Geschichte - in gepflegtem Rumänisch oder, wahlweise, in exzellentem Deutsch. Obwohl weder das eine noch das andere ihre Muttersprache ist.
Das Land, in dem Valeria Svart geboren wurde, gibt es nicht mehr: Als die Sowjetunion zerfiel, blieb auch die kleine Valeria, damals erst zwei Jahre alt, ohne klare Identität. Oder sie bekam mehrere Identitäten, zu viele, die schwerlich zusammenpassten. In Chisinau erklärten die Politiker 1991 die Unabhängigkeit der neuen Republik. Viele strebten eine schnelle Vereinigung mit dem historisch eng verbundenen Rumänien an, denn sie fühlten sich als Rumänen und wollten sich russischem Einfluss entziehen. Der Versuch scheiterte allerdings an den geostrategischen Gegebenheiten der Region, vor allem aber an der fehlenden Übereinstimmung in der moldauischen Gesellschaft selbst. Denn viele andere wiederum fühlten sich nicht Rumänien zugehörig, sondern näher an Russland.
Auch bei Valeria Svart wurde zu Hause Russisch gesprochen, obwohl ihre Eltern, beide Lehrer, keine Russen sind: Valerias Mutter stammt aus Georgien, ihr Vater ist jüdischer Herkunft. Als die Sowjetunion mit ihrer internationalistischen Ideologie endgültig scheiterte, wurden die Bürger der neuen Nationalstaaten mit Identitätsfragen konfrontiert, die einige, wie die Familie Svart, als einen Zwang empfanden. Und die junge Republik Moldau, die inzwischen seit mehr als 20 Jahren als unabhängig gilt, verstrickte sich von Anfang an in Widersprüche.
Dennoch präsentiert sich Valeria Svart heute gerne als Moldauerin. Mittlerweile hat sie auch die neue Landessprache gelernt: den rumänischen Dialekt, den die einen »Rumänisch« nennen, die anderen »Moldauisch« und die Verfassung wohl oder übel nur »Amtssprache«. »Moldauische Politiker unterschätzen die kulturelle und natürliche Vielfalt unserer neuen Heimat«, glaubt die Studentin. »Ich bin stolz auf mein Land und möchte mich nach dem Studium unbedingt weiter hier für Umweltprojekte engagieren«, erklärt sie enthusiastisch.
Beinahe ein Drittel aller Moldauer leben - wie Valeria Svart - im Ausland, aber nur die wenigsten teilen ihren Wunsch nach einer Beteiligung am Aufbau oder gar nach Rückkehr in die Heimat. Denn die Hoffnungen, die sich viele Bürger der neuen Republik Anfang der 1990er Jahre gemacht hatten, wurden bitter enttäuscht. Der kleine Binnenstaat bleibt isoliert in einer grauen Zone zwischen der Europäischen Union und Russland, ohne über die strategische Bedeutung, die Ressourcen und die Industrie der Ukraine zu verfügen. Abhängig von der russischen Energie und angewiesen auf Subsistenzlandwirtschaft, gilt Moldau nach wie vor als das ärmste Land Europas.
In den Straßen Chisinaus florieren die Wechselstuben, Plakate werben für Dienstleistungen rund um die Visabeschaffung, Übersetzungen und den internationalen Bargeldtransfer. Die Überweisungen an die Daheimgebliebenen machen rund die Hälfte des moldauischen Bruttoinlandsprodukts aus. Ihre Einkäufe erledigen die meisten Hauptstadtbewohner auf Märkten, die nach dem Kollaps des sozialistischen Handels das Erscheinungsbild vieler postsowjetischer Städte prägen. Für ein Kilo Kirschen aus dem benachbarten Dorf oder eine Packung Zigaretten aus der Ukraine sind umgerechnet 30 Cent zu zahlen. Der Durchschnittslohn der moldauischen Arbeitnehmer liegt knapp über 150 Euro im Monat, fast so viel wie die Heizungsrechnung im Winter.
Mehr als zwei Jahre lang war das moldauische Parlament nicht in der Lage, einen neuen Präsidenten zu wählen. Etliche Versuche, die politische Dauerkrise durch vorgezogene Wahlen und Volksabstimmungen zu lösen, waren an der Sturheit der beiden politischen Lager gescheitert - oder am fehlenden Interesse der Bürger, die dem Politikerstreit die Arbeit im Ausland vorziehen.
Im März dieses Jahres vollbrachte es die »proeuropäische« und prorumänische Koalition uner Regierungschef Vlad Filat endlich: Nach einem Deal mit drei den Kommunisten abtrünnig gewordenen Abgeordneten wurde Nicolae Timofti zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Im August durften Filat und Timofti sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel in Chisinau empfangen: Es war der allererste Besuch eines deutschen Regierungschefs in der Republik Moldau.
Das größte Hindernis auf dem Weg des Landes zum EU-Beitritt ist indes weder die katastrophale Wirtschaftslage noch der politische Dauerstreit, sondern das Problem »Transnistrien«. So wird auf dem westeuropäischen diplomatischen Parkett jener schmale Landstreifen östlich des Flusses Dnjestr genannt, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg an die neue Moldauische Sowjetrepublik angegliedert wurde. Die Antwort auf die Frage, ob dieser Landstrich jenseits (also »Trans-«) oder diesseits des Flusses liegt, hängt natürlich ganz vom Standpunkt des Betrachters ab. Als die Politiker in Chisinau immer mehr Autonomie gegenüber Moskau und eine Annäherung an Bukarest suchten, erklärte die Moldauische Dnjestr-Republik - wie sie sich selbst nennt - jedenfalls 1990 ihre Unabhängigkeit, noch bevor die Republik Moldau ein Jahr später selbst so weit war. Es folgte ein politischer Konflikt, der 1992 zu einer militärischen Auseinandersetzung mit Hunderten von Toten auf beiden Seiten führte.
Tiraspol, die Hauptstadt der abtrünnigen Dnjestr-Republik, liegt nur 60 Kilometer von Chisinau entfernt. Der Bus aber braucht fast zwei Stunden, aufgrund eines 30-minütigen Stopps an einer ganz realen Grenze mit uniformierten Grenzpolizisten und Abfertigungshaus. Die Grenzer interessiert es nicht, dass kein anderer Staat ihre Republik anerkennt.
Seit der Gründung inszenierte die Führung dieses Staates mit Unterstützung Moskaus eine autoritäre Farce mit sowjetischer Symbolik. Erst bei den Präsidentschaftswahlen Ende 2011 verlor der langjährige Amtsinhaber Igor Smirnow überraschend gegen den jüngeren Jewgeni Schewtschuk.
Die Straßen von Tiraspol tragen zwar die Namen Lenins oder Liebknechts und anderer Revolutionäre, doch Tiraspols Kommunismus ist nicht mehr als eine Fassade, zumal die gesamte »Planwirtschaft« links des Dnjestr von nur wenigen Gefolgsleuten des vormaligen Präsidenten geplant und zugleich umgesetzt wurde. Unübersehbar ist in den Straßen der Hauptstadt der rote Schriftzug »Sheriff« - am Stadion, an Supermärkten, Tankstellen, Wodka-Flaschen und anderen Produkten des großen Privatkonzerns.
Sergej S. sitzt in einem der wenigen Restaurants von Tiraspol, es gibt Fisch im Teigmantel nach russischer Art, dazu Bier aus der Ukraine. Der 23-Jährige, der seinen Namen nicht genannt haben will, wurde in einem Dorf in der Nähe der Hauptstadt geboren und hat hier Übersetzungswissenschaft mit Schwerpunkt Deutsch und Englisch studiert. »Meine Eltern haben mir erzählt, dass wir während des Kriegs in die Ukraine zu unseren Verwandten fliehen mussten. Sie hatten Angst vor den rumänischen Truppen«, berichtet der junge Akademiker. Seine Familie ist ursprünglich ukrainischer Herkunft, doch zu Hause wurde, wie vielerorts in der Sowjetunion, nur Russisch gesprochen.
Genau wie Valeria Svart setzt Sergej S. sein Studium inzwischen in Deutschland fort. Anders als sie hat er aber kein Rumänisch gelernt. »Jetzt ist es fast zu spät für eine Wiedervereinigung mit Moldau, mehr als 20 Jahre sind eine lange Zeit«, schätzt er und erklärt: »Die Moldau hat die Westorientierung gewählt und will in die EU oder sogar eine Vereinigung mit Rumänien. Das wird aber nicht passieren, weil die Politiker in Chisinau ihre Privilegien nicht aufs Spiel setzen wollen.«
Nichtsdestoweniger muss auch Sergej S. regelmäßig vor der deutschen Botschaft in Chisinau Schlange stehen, denn für die Außenwelt gilt er als moldauischer Staatsbürger. »Vielleicht wird Transnistrien irgendwann anerkannt werden, das würde vieles erleichtern«, hofft er.
Die heutige Republik Moldau ist ein Flickenteppich unterschiedlicher Landschaften und Biografien, wo letztlich keiner so genau weiß, was seine Identität ist. In vielerlei Hinsicht kann der neue Staat als gescheitert betrachtet werden. »Gescheitert, aber bunt«, wie die Komikertruppe Planeta Moldova in einem ihrer Stücke sagt.
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