Ich und der Ostfußball - eine Abbitte
»Ohne Fußball wär'n wir gar nicht hier« - Geschichten von Fans
Unsere Welt in Hamburg-St. Pauli war klein. Und wir hatten überhaupt nichts dagegen, dass sie sich jedes Wochenende in die gleiche Richtung drehte. Allerdings fügte es sich, dass der ortsansässige Kiezklub damals in eine Spielklasse mit dem Chemnitzer FC und dem FC Carl Zeiss Jena gesteckt wurde. Helmut Kohl und seine Parteifreunde vom DFB hatten es so gewollt.
Ostvereine also. Chemnitz hört sich ja schon wie Irkutsk an. Wir sollten es also mit Zonis zu tun bekommen, jenen Wesen, die Bananen mit Gurken verwechseln und Wettrennen mit Afrikanern veranstalten. Es gab damals auf der Gegengerade sicher auch schon Menschen, die wussten, dass Jena nicht in Sachsen liegt. Und es gab solche, die wussten, dass die Neonaziquote im Osten unter 103,4 Prozent liegt. Es gab all diese Menschen sicher - ich habe nur nie einen einzigen davon kennengelernt.
Am 26. November 1994 sollte also die erste »Mottofahrt« in der Geschichte des FC St. Pauli stattfinden. Etwa zeitgleich hatte die FDP mal wieder alle Landtagswahlen vergeigt. Die FDP war damals schon der gleiche widerliche Haufen wie heute. Eine Ansammlung von Karrieregeiern, die auch Drakonischeres als unseren Spott verdient gehabt hätte. Der FSV Zwickau und seine Fans hatten hingegen nicht einmal Spott verdient - das sollten wir uns aber erst auf der Rückfahrt eingestehen.
An einem bitterkalten Novembermorgen trafen sich also rund 60 Leute, die sonst mit Metal-, Punkrock- oder Totenkopfshirts in den Bus zur Auswärtsfahrt stiegen. Diesmal trugen alle Anzug und Krawatte, statt wie üblich »Hey Punk« von »Slime« erklang die Neunte Symphonie von Beethoven aus den Boxen. Kaum in Zwickau angekommen, besangen wir zur Melodie von »When the saints ...« die Wiederauferstehung der Menschheitsgeißel: »Die FDP ist wieder da.« Und dann warfen ein paar von uns auch noch mit Pfennigstücken um sich. Das (»Wir kaufen euch alle«) war nun wirklich ironisch gemeint, als Persiflage des aufgeblasenen Wessi-Treuhand-Arschloches, das die meisten von uns genau so sympathisch fanden wie die FSVler.
Doch genau das war der Punkt: Wir hatten die Falschen provoziert: Nicht das Pack, das der VfB Leipzig nach Hamburg mitgebracht hatte und das ein paar Monate später auf der Reeperbahn Obdachlose zusammentrat. Sondern ganz normale Fußballfans, die uns in ihrer trotzigen Treue zu ihrem Lieblingsverein sehr ähnlich waren. Meine Erinnerung an Zwickau '94: Ein diffuses Gefühl der Scham - und das dringende Bedürfnis, irgendwann mal wieder ein Spiel in diesem Stadion zu sehen, in dem damals noch 8000 Verrückte lärmten, sangen und schrien. Und mal auf die andere Seite zu gehen. Dorthin, wo nicht 60 Schlipsträger standen, denen man doch zusehends ansah, dass sie die Sakkos bei Onkel Paul und Bruder Jörg geliehen hatten.
16 Jahre später war es so weit. Die Wellenbrecher waren einem seither nicht grader geworden, die Fans zwar weniger, aber kaum leiser. Und die netten Leute vom Fanprojekt, die ich ein paar Wochen vorher kennengelernt hatte, waren auch alle da. Ein prima Nachmittag, an dessen Ende ich Zeit zum Nachdenken hatte: Ich bin kein Fußballfan mehr. Ich fahre nicht mehr für einen Verein durch die Lande. Kein Ergebnis der Welt schafft es, mir das Wochenende zu versauen. Und für den heiligen Ernst, mit dem echte Fans jedes Detail ihres Fanalltags beleuchten, habe ich nur noch ein altklug-distanziertes Kopfschütteln übrig. Ich bin darauf nicht stolz. Dazu weiß ich zu genau, dass altkluge Menschen vor allem alt sind. Und selten klug.
Fußball wird aber immer meine Lieblingsflucht aus dem Alltag bleiben. Eine Besichtigung all dessen, was die Zwickauer in ihrem Fanprojekt an Erinnerungsstücken gesammelt haben, wird mich auch in Jahrzehnten noch mehr faszinieren als jedes Gespräch über Autos oder Aktien.
Ich wünsche dem FSV Zwickau alles erdenklich Gute. Wahrscheinlich hat es einen tieferen Sinn, dass das alte Stadion abgerissen wird. Was bringen einem schon alte Wellenbrecher, wenn es keine Wellen von Zuschauern mehr gibt, die es zu brechen gilt, sondern nur noch versprengte Nostalgiker, die hoffen, dass irgendetwas in der Zukunft irgendetwas mit der Vergangenheit zu tun haben möge. Das war die Stimme der Vernunft, die gerade so pastoral vor sich hinquäkte.
Wer auf die Stimme der Vernunft hört, hat im Fußball schlechte Karten. Die andere Stimme ist auch deutlich lauter: Lasst das verdammte Stadion stehen, schreit sie. Jeden krummen Wellenbrecher, jeden Halm Unkraut, jeden verrosteten Pfeiler! Was ihr stattdessen bekommt, wird nicht schöner sein. Nur neuer.
Auszug aus: Andreas Beune, Christoph Ruf, Volker Backes: Ohne Fußball wär'n wir gar nicht hier, Geschichten von Fans in der Midlife-Crisis, ISBN: 978-3-89533-855-7, 9,90 Euro.
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