Wer weiterlebt, ist König: Narr
Ein Geniestreich wird 60: »Warten auf Godot«
WLADIMIR: Du hättest Dichter werden sollen.
ESTRAGON: War ich doch. (Er zeigt auf seine Lumpen.) Sieht man das nicht?
Estragon und Wladimir warten also auf Godot. Den Retter. Den Erlöser. Der nie kommen wird. Wir alle kennen das. Von der Kindheit, von der Utopie, von der Liebe. Vom Leben, das droht: Na, warte du nur! Am Ende Goethe, sanft: Warte nur, balde ...
»En attendant Godot« von Samuel Beckett wurde am 5. Januar 1953 am Theatre de Babylonne in Paris uraufgeführt - nachdem das Stück fünf Jahre lang kein Lektorat, keine Dramaturgie haben wollte. Beckett: langes Warten auf den Weltruhm - der eines Tages den Nobelpreis herüberreichen würde.
Die Weisheit seiner Dichtung offenbart sich in einer sehr einfachen Erkenntnis: Das ganze Leben dasselbe. Dann und wann ist etwas, das immer da war, urplötzlich weg. Sonst ändert sich nichts. Man ist auf der Erde, dagegen ist kein Kraut gewachsen. Man bleibt, man bleibt auf der Stelle, man lebt. Vor allem: Man klammert sich aneinander. Wladimir und Estragon: zwei zusammengehörige End-Spieler. Just diese Zusammengehörigkeit ist das Thema; diese herzerweichenden, clownesken, bösen und ganz lieben Fürbitten um Aufmerksamkeit und Würde. Beim Rübenessen, beim Versuch, sich aufzuhängen, beim Besprechen der Krankheiten und des Alters. Und beim Staunen über eine Welt, die leerer nicht sein könnte.
Welch große Bejahung! Denn: Wer sich Mühe macht, über die irre, trostlose Welt auch nur ein einziges Wort zu sagen, ein Wort zu einem anderen Menschen - der überwindet mit diesem Akt doch schon seine Gleichgültigkeit. Und die Leere. »Gehen wir!« - aber keiner geht. Das ist groß.
Beckett-Fotos zeigen einen Mann mit asketischem, scharf geschnittenem Gesicht und schmalen Lippen. Wasserhelle Augen mit durchdringendem Blick. Nobelpreis für einen Negativisten? Nein, er liebte den Menschen - in dessen Arbeit, eine Welt zu bestehen, die sich auf vernünftige Weise nicht erklären lässt, die unvertraut bleibt und deshalb niemals eine wirklich Heimat für uns sein kann. Becketts Rückspiegel: Shakespeare. Kein Geringerer belichtet seinen langen Weg, und seine Straßengrabenkönige sind so komisch, wie es nur ganz große Depressive sein können: Buster Keaton, Stan Laurel und Oliver Hardy, Jacques Tati, Karl Valentin, Thomas Bernhard.
Speziell mit »Godot« wurde Beckett in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zur Provokation - da die einen das Bild des unversehrten Bürgers wieder aufzurichten versuchten und die anderen den neuen Menschen bildeten, ihn sich einbildeten. Auch Brecht interessierte sich, er wollte das »spätbürgerlich dekadente Spiel« bearbeiten, Estragon und Wladimir als der Proletarier und der Intellektuelle - das Geschehen sollte kommentiert werden mit Bildern vom sozialistischen Aufbau in China. Brechts Wahrheit: klare Verhältnisse zwischen Klassen - Becketts Klarheit: die wahre Verhältnislosigkeit des geworfenen Menschen. Es lag außerhalb der Vorstellungen Brechts, dass auch beim sozialistischen Aufbau auf Godot gewartet wird. Man muss dem Genie b.b. gratulieren, dass er freiwillig an s.b. scheiterte.
Beckett hat auf dem Theater allen Pomp, alle Rhetorik, alle Aktion, alles Heldentum zerschlagen - und das dramatische Personal begrenzt auf diejenigen, die sonst nur an den Rändern auftauchen: Bettler, Vagabunden, Greise, Vereinsamte, Schwache, Verrückte. Er hat die Weltbühne der Probe ausgesetzt: ob der Mensch, wenn man ihn aller dramatischen Funktion beraube, denn überhaupt noch ein betrachtenswertes Wesen sei. Ja!, rief das Theater, und so hat just Becketts scheinbare Mensch-Unfreundlichkeit immer wieder zu großartigen Darsteller-Festen geführt (Rühmann, Lühr, Bollmann, Held, Kortner, Schröder, Holtzmann, Minetti, Voss, Kirchner, Wildgruber, Schall, Bierbichler). Schön: Wo die Welt leer ist, öffnen sich Galaxien für das Wunderbarste, was Theater aufbieten kann - Schauspieler.
Wladimir und Estragon sind geheime Empörer, sind das Trotzdem inmitten der Trauer: im Sande versinken, aber auf stoischem Grund bleiben. Das ist die Werktätigkeit der Clowns - denn wer seine Existenz-Probleme dauernd überlebt, ist doch wirklich ein Narr.
Warten auf Godot: Leben wider sämtlichen Sinn-Trug. Das aber Sinn erhält, indem es dem Chaos eine Form abringt, nämlich das Gespräch. Freilich: Nur zwischen jenen Geistern, die bestrebt sind, ihre Ratlosigkeit zu festigen, sind wahre Gespräche möglich. Morgen ist wieder Erwachen, und Erwachen ist eine Erbsünde wie das Geborenwerden. Ein neues Spiel, das alte Unglück.
Becketts Horizonte sind aus Blei. Aber seine Hoffnungslosigkeit tänzelt, schwebt und federt. Welches Thema theatralisch, literarisch auch Mode sei, der jeweils letzte Schrei findet sich schon unter Becketts ersten Schreien. Dieser Dichter ist ein Gefährte in der Nacht, ein Heiland der Heillosen. Wo die Bezüge brechen, wird beim großen Iren der Possenreißer zum Metaphysiker - in einer Welt, die von Metaphysik nichts mehr hält oder dem Menschen falsche Weltbilder aufdrückt. Einzig solche Welt ist leider beständig, und so sind Becketts Gestalten zu Urbildern einer partisanischen Absurdität geworden, die alles zu überstehen gewillt ist.
Das ist der Vorstoß zum Kern der Kreativität: Wo nichts mehr zu machen ist, kann alles immer wieder von vorn beginnen. Becketts Literatur ist Ermutigung, die letzte Scheu abzulegen - vor jenem nötigen Blick in die Spiegel, der jedem Konflikt mit der Welt den Beginn setzt. Also dem Eigensinn.
Wladimir und Estragon reden über den Landstraßenbaum, an dem sie sich gestern aufhängen wollten, ach, heute trägt er ein paar Blätter.
WLADIMIR: Was sagen uns die Blätter?
ESTRAGON: Sie sprechen über ihr Leben.
WLADIMIR: Es genügt ihnen nicht, gelebt zu haben.
ESTRAGON: Sie müssen darüber sprechen.
WLADIMIR: Es genügt ihnen nicht, tot zu sein.
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