Der Hass, ein Schutzinstinkt
Der Schwede Steve Sem-Sandberg hat ein Buch über Ulrike Meinhof geschrieben
Die Bücher über die RAF und ihre Taten füllen inzwischen ganze Bibliotheken. Auch literarische Darstellungen und Auseinandersetzungen mit der sog. Baader-Meinhof-Gruppe von ihrer Entstehung in und aus der Studentenbewegung bis zum heißen Herbst 1977 gibt es in Hülle und Fülle - von F. C. Delius über Michael Wildenhain bis zu Erasmus Schöfer, um nur einige prominente Autoren zu erwähnen.
Doch ist das Thema heute ein wenig in den Hintergrund gedrängt - die Debatten um Arbeit und soziale Sicherheit, den Euro und seine Krise, schließlich die dramatischen Umschichtungen und Verlagerungen zwischen den Weltmächten haben Vorrang.
So hat ein Schwede, Steve Sem-Sandberg, den Roman »Theres« über Ulrike Meinhof geschrieben, Theres, so erfährt man erst spät in diesem Roman, dem sein Verfasser vorausschickt, dass es sich um ein Werk der Fiktion handle (»Textquellen, Dokumente und Dialoge entstammen entweder der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet«), sei Ulrike Meinhof von Gudrun Ensslin genannt worden.
»Angesichts des religiösen Hintergrunds von Ensslin«, so lässt Steve Sem-Sandberg den unmittelbaren Gegenspieler der RAF-Leute, den damaligen BKA-Chef und Erfinder der Rasterfahndung Horst Herold, räsonieren, »kann sie niemand anderen im Sinn gehabt haben als die Karmeliterin Therese, die allein, isoliert und von ihren Gefährten im Stich gelassen hinauszog und den Katholizismus reformierte.«
Was diesen Roman von anderen literarischen Bearbeitungen der Problematik unterscheidet, ist zum einen das Maß der in ihn eingegangenen historischen Dokumente - mag der Autor auch noch so frei damit umgegangen sein -, zum anderen die Konzentration auf die Psyche der Protagonistin Ulrike Meinhof.
Das Buch ist eine penible Auseinandersetzung Sem-Sandbergs mit der Zeit zwischen 1972 und 1976, das heißt vor allem der Haftzeit von Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe bis zum Selbstmord Ulrike Meinhofs am 8. Mai 1976. Zugleich beschäftigt den Autor die Entwicklung seiner Protagonistin - und zwar durchaus im Sinne eines Psychogramms.
Auf dem Hintergrund biografischer Stationen versucht er, sich Ulrike Meinhof zu nähern: früher Verlust des Vaters und der Mutter, Aufwachsen bei Renate Riemeck, einer Freundin der Mutter, erstes politisches Engagement während des Studiums Ende der 50er Jahre, rasche journalistische Karriere, Ehe mit dem »Konkret«-Herausgeber Klaus Rainer Röhl, Enttäuschung über das Ende der Studentenbewegung, Radikalisierung, Abtauchen in den Untergrund.
So entsteht das Porträt einer deutschen Intellektuellen, die - soll man nun sagen: aus Frust und Enttäuschung?! - den Weg der Radikalisierung und in den Untergrund gewählt hat, einer ernüchterten Frau, die sich lange um Einmischung auf dem politischen (Schlacht-)Feld bemüht, dann die Unfähigkeit und Unmöglichkeit rational-diskursiver Einmischung bemerkt hat und am Ende nur noch Hass in sich spürt. Von diesem Hass ist an mehreren Stellen im Roman die Rede.
Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke nennt Ulrike Meinhof ihn »ihre einzige Triebkraft«, und in der Zelle erinnert sie sich »an das Gefühl des Hasses«, das jetzt keinen Motivationsgrund mehr darstellt, sondern einen »natürlichen Reflex«, einen »Schutzinstinkt«.
Einsam und isoliert durch die Haft in Stuttgart-Stammheim und auch aufgrund einer tiefen inneren Distanz zu den anderen Gruppenmitgliedern, so scheint es jedenfalls im Roman, nimmt sich Ulrike Meinhof das Leben.
Steve Sem-Sandberg: Theres. Roman. Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek. Klett-Cotta. 391 S., geb., 22,95 €.
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