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Die Systemfrage

»nd im Klub« bot Gregor Gysi und Hans Modrow Gelegenheit zum Kulturaustausch

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Linkspartei schreitet angeblich fragend voran, immer aber im Disput. Der wird von Strömungen und Zusammenschlüssen ausgetragen. Eine Strömung kommt dabei nur selten zu Wort, die große, meist schweigende Strömung der Alten. Wenn sie das Wort ergreift, dann ist meist Hans Modrow nicht weit. Und manchmal muss sogar Gregor Gysi zuhören.

Als Hans Modrow noch Ehrenvorsitzender der Partei war, durfte er auf Parteitagen die einführenden Worte sprechen. Wenn er Gregor Gysi heute die Leviten lesen will, muss er das unter vier Augen tun. Oder als Gast im »nd-Klub«. Wie beide im nd-Redaktionsgebäude am Dienstagabend versichern, treffen sie sich regelmäßig. Gysi: »Hans sagt, dass er Gesprächsbedarf hat, dann kommt er zu mir, dann geht es los - erstens, zweitens, drittens...«

Hans Modrow sieht offenbar öfter Gesprächsbedarf. Und er nutzt auch diesen Abend. Anlass ist eigentlich ein kleines Büchlein, das nach einem arrangierten Zusammentreffen der beiden entstanden ist und das am Dienstag vorgestellt wird. Der Autor und Journalist Frank Schumann meint zur Einleitung, er habe es für an der Zeit gesehen, die beiden gemeinsam nach ihrer Sicht auf das Ende der DDR und den Weg der Partei zu fragen, sie »aufeinander los zu lassen«, wie er den grundlegenden Dissens umschreibt, den er vermutet.

Aber so schlimm ist es gar nicht. Wie auch im Buch gibt es gegenseitige Zustimmung, Erinnerungsunterschiede und auch verschiedene Wahrnehmungen. »Ostdeutsch oder angepasst«? Der Buchtitel legt einen Widerspruch nahe, der Gabi Oertel, stellvertretende Chefredakteurin, trotz Nachfragen von den beiden angeblichen Kontrahenten nicht bestätigt wird. Ostdeutsch sind sie beide, und angepasst zu sein, lehnen beide ab.

Aber ganz wohl scheint Gysi nicht zu sein, wenn Modrow ihn mit seinen Analysen zu umkreisen beginnt. Zu seinem 85. Geburtstag vor wenigen Tagen haben Genossen ihre Glückwünsche mit dem Kommentar garniert: »Weil du noch in der Partei bist, sind wir auch noch drin.« Da grummelt offenbar einiges, das mal raus muss. Modrow hält es für eine prinzipielle Frage, wie die Partei auf ihre Senioren hört, die zwar in einem Ältestenrat zusammengeschlossen sind, aber nach eigenem Eindruck zu wenig Anklang finden. Etwa mit der Empfehlung, ehemaligen DDR-Bürgern nicht nur einen »Erfahrungsvorsprung« zuzugestehen, sondern einen Systemvorsprung. »Es wird zu wenig auf die Alten gehört«, sagt Modrow. Dabei stellen die über 70-Jährigen die größte Gruppe in den Alterskategorien in der Partei. Im nd-Interview hatte er sich für zwei Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl ausgesprochen. Nun sind es acht. Gregor Gysi tut das, was ihm sein Gegenüber durch die Blume vorwirft. Er bemüht sich um Ausgleich. Respekt vor dem Alter sei eine Frage der Kultur, versichert er. Dass er sich dabei ausgerechnet ein Beispiel an der SPD nehmen will, die ihre ergrauten Größen bei Parteitagen in der ersten Reihe platziert, nimmt Modrow wortlos, aber ohne erkennbare Begeisterung hin. Einen Kapitän will Modrow im Wahlkampf, »der öffentlich sichtbar ist«, keinen Wahlkampf-Achter. Er stichelt: Einen Bundeskanzler wolle die LINKE zwar nicht stellen, aber eine komplette Regierungsmannschaft, die biete sie schon mal auf.

»Wer Kapitän ist, die Frage stellt sich doch gar nicht.« Gysi ist ganz bei sich. Ihm mangele es an allem Möglichen, aber an Selbstbewusstsein sicher nicht.« Und jetzt sei der Beschluss gefasst, und es gelte, sich dahinter zustellen. Das ist eine Formel, auf die sich beide schnell verständigen können. Auch wenn Modrow noch nicht ganz besänftigt scheint. Systemfrage, Fehleranalyse, Erfahrungen nutzen. Und Gysi stimmt zu: Als demokratischer Sozialist stelle er die Systemfrage. Immer.

»Ostdeutsch oder angepasst. Gysi und Modrow im Streitgespräch«, 160 Seiten, 9,99 Euro, edition ost, ISBN: 978-3-360-01847-2

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