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Beweis und Weisheit

Brechts »Der kaukasische Kreidekreis« am Landestheater Neustrelitz

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist und bleibt staunenswert, das entmoralisierte bürgerliche Strafrecht. Es behandelt wirklich alle gleich - dem subjektiv schäumenden Mitgefühl wird die Robe verweigert, die seelische Anteilnahme bekommt kein Richteramt; juristische Rechtsprechung ist also nicht unbedingt identisch mit der Gerechtigkeit der Fühlung. Die herzlose Weisheit des Beweises hat Gewicht, nicht aber die Beweiskraft jener Weisheit, die aus der Wärme eines Herzens kommt. Das, was oft genug für Empörung sorgt (wenn Mörder mit Verteidigungsleistungen betreut werden, als gelte es, sie als Unschuldige zu schützen) - das bleibt eine unantastbare Errungenschaft. Denn es schützt vor Emotion. Emotion kann morden wie ein Messer. Messer gehören an keinen Gerichtsort.

Plötzlich aber wird alles anders! Sieh da - ein schneller Orgasmus des ganz und gar Utopischen: Das Recht wird, gegen alle Regel, befruchtend von der Gerechtigkeit bestürmt und genommen. Der kräftige, kantige, kerlige, klotzige Schauspieler Dietmar Lahaine spielt den Richter Azdak, der das Kind der reichen Gouverneurin nicht der leiblichen Mutter zuspricht, sondern jener Magd Grusche, die es aus den Wirren des Krieges fortzog, es aufzog - und die es nicht fertigbringt, den Jungen aus dem Kreidekreis zu ziehen, an dessen anderem Ende die Gouverneurin zerrt. Zerreißproben sind keine Proben, die der Liebe zuzumuten sind.

Der Richter selber, der doch die Probe ansetzte, widerruft deren Sinn. Nachdem er das derb Raufboldische einer Magd zunächst als Chance sah, die Gouverneurin zu besiegen. Er spricht ein Urteil der Güte, wider sich selbst und doch ganz bei sich angekommen - und haut ab. Ein paar Minuten dauert die neue Welt: Alles wird gut. Aber länger als eine historische Sternschnuppenzeit dauern wirklich menschliche Gesellschaften, Phasen der »goldnen Zeit beinah der Gerechtigkeit«, wohl nie.

Brechts Größe: Er bindet Azdaks Wagemut an dessen noch größeren Instinkt - dafür, dass so ein so schöner Terrorismus der freundlichen, nicht standesgemäßen Amtsübernahme auf Dauer nicht gutgehen kann; also flieht der windige Wohltäter so flink, wie er auf der Szene erschien. Mochten andere, in der Realität, den Traum von der staatsregierenden Köchin propagieren, aber gleichzeitig die Rationen kürzen - Brechts Azdak ist, wie ihn Lahaine in bester Suhllaune spielt, ein graziös polternder Schmutz-Solitär, der einen deshalb so aufrichtet, weil er sich keine Illusionen macht und daher ganz frei ein Hoffnungsheld sein kann.

Lahaine gleicht einem Dorfrichter Adam, der aus dem Alb der Selbstentlarvung im Glück der Selbstentdeckung erwacht - bei Kleist leiden, bei Brecht leben; ein deutscher Fortschritt. Plebejische Derbheit paart sich mit humaner Kultur, die Verschlagenheit des Gossencowboys wirft sich auf zur großen Lust, die Verhältnisse zwischen Oben und Unten, Reich und Arm für einen einzigen, aber folgenreichen Moment umzukehren.

Jürgen Kern hat am Landestheater Neustrelitz Brechts »Der kaukasische Kreidekreis« inszeniert: geradlinig, mit beeindruckendem Gespür für das Balladeske der Parabel. Ein 13-köpfiges Ensemble belebt weit über 30 Rollen. Das Zentrum von Falk Schults Bühne bildet eine ansteigende Hinterwand, die einen Schutzraum des Gleichnishaften ebenso assoziiert wie Gebirgswand und Panzerplatte. Mal ergraut die Szene in der Farbe der Existenzschwere, mal erglüht sie im Rot, das aller Lebensöde den Zukunftsschein überwirft. Und der doch nur Kriegsflammenhimmel ist.

Lisa Voss ist eine inständig lebenspraktische Grusche, die gegen alle andrängende Verzweiflung immer wieder jene Kraft aufwendet, die nötig ist, damit Existenz nicht stockt und stürzt. Mathias Mertens als Sänger-Kommentator brilliert kunstliedbewusst und distanzpfiffig (zur Klavierbegleitung von Klaudia-Friederike Holdefleiß: klassische Hochsteckfrisur als Kontrast zur Erdigkeit des Abends) - Mertens auch als dauergrinsender Anwalt oder besoffner Pope: überzeugend spindeldürrkomisch. Karin Hartmann: ein leidgeprüftes, daseinsfindiges Mütterchen Grusinien, so behüterisch wie weibsteuflisch - diese Schauspielerin mag stehen für die geschmeidige, rhythmusbewusste Arbeit dieser Kern-Truppe.

Die Aufführung hat Witz (Saal-Lachen, wenn sich im Vorspiel, dem Streit zweier Kolchosen um ein fruchtbares Tal, eine Genossin auf die kleine Lenin-Büste auf dem Tisch stützt - Ikone, gib mir Halt!), und der Abend hat eine selbstverständliche Kraft für die erbauliche Botschaft: Das Kräftigste am Menschen ist seine Anfälligkeit für Menschlichkeit, und sei es nur für ein paar Azdak-Minuten.

Vorstellungen: 15., 21. Februar in Neustrelitz, 14. 3. in Güstrow.

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