Demut und blauer Dunst

Heute geht die 63. Berlinale zu Ende - Rückblick und Ausschau

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Zwei Dinge beherrschten diese Berlinale. Zum einen der Jury-Präsident Wong Kar Wai mit seinem Bekenntnis zur Demut vor der Kunst und zum anderen viele Filme, in denen ältere Frauen im Mittelpunkt stehen. Frauen zwischen sechzig und siebzig, die mehr sein wollen als die Mütter ihrer Kinder und die Töchter ihrer Mütter. Was das ist, wäre erst noch herauszufinden.

Aber bleiben wir bei Wong Kar Wai. Wer seinen Film »In the mood for Love« kennt, diesen in sich zurückgenommenen Liebesfilm, der jede direkte Ansprache vermeidet, sich in beredte Gesten und Blicke zurückzieht, wird wenig erstaunt gewesen sein. Nein, das Prinzip Kritik ist nicht das, woraus jemals Kunst zu schöpfen wäre. Aber die besseren unter den Kritikern - die schöpferischen Naturen! - wussten das ohnehin. Nur, wer bereit ist, etwas zu lieben, sollte sich auch als Kritiker betätigen. Wenn die Liebe misslingt, dann kann sich die Enttäuschung auf um so rücksichtslosere Weise Bahn brechen.

Da die Jury-Mitglieder sich nun bei den neunzehn Wettbewerbsfilmen der letzten zehn Tage zuallererst selbst als Kritiker betätigten, kann man nur sagen: Vorsicht vor der Jury! Denn Wong Kar Wais Prinzip Demut ist nicht mit Milde zu verwechseln - im Gegenteil! Rilke schreibt es in seinem Florenzer Tagebuch, und jeder, der sich als Kritiker versucht, sollte über diese Sätze gelegentlich meditieren: »Solange die Kritik nicht Kunst neben anderen Künsten ist, bleibt sie kleinlich, einseitig, ungerecht.« Das klingt sehr entschieden - das klingt nach dem Jury-Präsidenten!

Was also tun mit all den Maßstäben, die in der Welt sind und alles in Schubkästen ablegen wollen, wohlbeschriftet und gut vergessen? Man kann einfach weglaufen, so wie Catherine Deneuve in Emmanuelle Bercots »Elle s´en va«, dem letzten der im Wettbewerb gezeigten Filme. Das Road Movie über eine ältere Frau, die nur schnell Zigaretten holen will. Dann aber plötzlich unterwegs ist, das zu finden, was sie verloren glaubt. Der Film blieb ohne Preis, dabei zeigt er auf wunderbare Weise eine Verwandlung. Betty besitzt ein Restaurant, das sie nicht sehr erfolgreich führt, obwohl sie ausgezeichnet kocht. Sie ist eben eher der Typus Kochkünstlerin. Aber auch Lebenskünstlerin? Am Morgen war sie soeben von ihrem x-ten Geliebten verlassen worden. Die Nachricht überbringt die uralte Mutter, bei der sie wohnt. Dann sind auch die Zigaretten alle, sie setzt sich in ihr Auto und fährt und fährt. Catherine Deneuve, die Filmikone der 60er und 70er Jahre des französischen Kinos, fasziniert mit ihrer uneitlen Art, in der sie auf sich blickt. Auf der Pressekonferenz gab sie die ultimative Antwort zum Thema Altwerden: Man solle es bloß nicht zur Obsession machen!

So viel kann Gastronomin Betty gar nicht rauchen, um nicht daran zu denken, was sie in den vergangenen Jahrzehnten alles zurückließ. Auf ihrer Reise trifft sie Männer verschiedenster Art, auch einen ziemlich jungen, dem es gefällt, dass sie schon älter ist. Als sie sagt, sie habe jetzt keine Zeit mehr, sie müsse sich nun wieder um ihr Restaurant kümmern, antwortet er verwundert: Wieso, bist du denn noch nicht in Rente? Bei solchen Einwendungen hilft nur, sich noch eine Zigarette anzuzünden. Die Frauen jenseits der Lebensmitte, die auf dieser Berlinale so erfolgreich waren, rauchen alle wie die Schlote.

Da ist Gloria in dem gleichnamigen chilenischen Beitrag von Sebastián Lelio. Sie stürzt sich auf das Leben und die Liebe mit den immer falschen Männern, singt, tanzt - und raucht. Rauchen konserviert die Lebensfreude. Paulina Garcia bekam für ihre Darstellung der Gloria den Silberner Bären als Beste Darstellerin. Auch Luminita Gheorghiu, die Hauptdarstellerin in Calin Peter Netzers »Pozitia Copilului« (»nd«-Kritik vom 12.2), raucht Kette. Das allein hat gewiss nicht für den Goldenen Bären gereicht, den der Film zu Recht bekam - aber in der Preisvergabe zeigt sich etwas, was auch diese Berlinale wieder auszeichnete: politisch ambitionierte Filme durchaus, die sich jedoch keine moralische Beispielfunktion anhängen ließen, stattdessen ästhetische Exzentrik kultivierten.

Die alljährliche Bären-Verleihungsprozedur jedoch entwickelt sich zur Tortur. Das liegt auch an den krampfigen Entspanntheitsposen, die Festivalpräsident Dieter Kosslick zelebriert. Wieder ist es die unvermeidliche Anke Engelke, die den Abend in Comedy-Manier moderiert. Man denkt bei dieser Verleihung jedes Jahr aufs Neue, die Zeit sei stehengeblieben. Ist sie aber nicht, wenn auch die Witze und Gags von Jahr zu Jahr älter werden. Erster Satz von Engelke über Kosslicks Anzug: »Wo hast du denn den Fummel nur wieder her?« Das ist die Rhetorik des Abends. Man kann nur hoffen, dass Wong Kar Wai, hinter einer dunklen Brille Schutz suchend, ihr nicht immer zu folgen vermag.

Beachtlich: Der Silberne Bär für den Besten Darsteller ging an Nazif Mujic. Der bosnische Film von Danis Tanovic »Epizoda u Zivotu Beraca Zeljeza«, der auch den Großen Preis der Jury bekam, ist eine jener Berlinale-Entdeckungen, bei denen man zweifeln muss, ob sie hierzulande überhaupt jemals einen kommerziellen Verleih finden werden. Um so wichtiger ist es, diese Geschichte aus dem Leben eines Eisenhändlers in den Blickpunkt zu rücken. Eine Roma-Familie in Bosnien. Der Vater verschrottet mit bloßer Hand Autos und ernährt damit gerade so die Familie. Dann gibt es eine Komplikation bei der Schwangerschaft seiner Frau, das Baby ist im Mutterleib gestorben, eine schnelle Operation notwendig. Aber die Familie hat keine Krankenversicherung, das Krankenhaus weist sie ab. Nazif Mujic spielt sich selbst, er ist jener Schrotthändler aus Bosnien, um den es in dem Film geht. Der Fall ist authentisch. Auch das macht die Berlinale immer wieder sympathisch, wenn sie etwa den Preis des Besten Darstellers an einen Laien vergibt.

Dass Jafar Panahi, der mit Filmverbot und Hausarrest belegte iranische Regisseur, den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch erhielt, war zu erwarten. Aber auch hier geht es um mehr als Solidaritätserklärungen. Denn Panahis Film »Pardé«, der in seinem Haus am Kaspischen Meer heimlich hinter geschlossenen Vorhängen gedreht wurde, ist ein mutiges Lebenszeichen der Kunst in Iran. Den Preis nahm Co-Regisseur Kamboziya Partovi mit den Worten entgegen: »Das Aufhalten eines Künstlers und Denkers war niemals möglich.«

Manchmal kann Dieter Kosslick dann doch Pointen setzen, etwa wenn er einen Satz so beginnt: »Mit einem Akkord von Wong Kar Wai gesprochen...« Da ist die Berlinale dann im besten Sinne mitten im Widerspruch zwischen bedrängender Geschichte und ästhetischem Anspruch. Wie in der Jury bereits die nicht einfache Konstellation zwischen Wong Kar Wai und Andreas Dresen zeigt.

Auf notwendige Weise verstörend: »The Act of Killing«, ein Dokumentarfilm über Indonesien im Jahr 1965, als über eine Million Menschen von Paramilitärs wegen angeblich kommunistischer Gefahr abgeschlachtet wurden, lief in der Panorama-Reihe. Nicht nur, dass dieser Massenmord heute fast vergessen ist, schockierte, mehr noch, dass die Schlächter von gestern sich noch immer als Sieger fühlen dürfen und im Film ihre Morde bereitwillig nachstellen, als seien es Heldentaten.

Der deutsche Film machte sich in diesem Jahr nicht sonderlich bemerkbar. Allerdings: Der rumänische Regisseur Calin Peter Netzer ist wohl fast zur Hälfte als Deutscher anzusprechen. »Pozitia Copilului« ist nicht nur ein großartiger Film über das schwierige Verhältnis eines Sohnes zu seiner dominanten Oberschichten-Mutter, die ihren Sohn ebenso beharrlich wie vergeblich zum Lesen von Herta Müller animiert, sondern auch ein Film über den Generationenwechsel im heutigen postsozialistischen Rumänien. Netzer wuchs in Deutschland auf und ging nach dem Abitur nach Rumänien zurück, während die Eltern in Stuttgart blieben. Nach seinem Regiestudium in Bukarest kommt er nun nach Berlin, um den Goldenen Bären zu gewinnen. Auch das ist Europa von heute, im Idealfall.

Gefragt, ob die Figur der allgegenwärtigen Über-Mutter im Film ein Vorbild habe, antwortet Netzer: ja, seine eigene Mutter. Die hat »Pozitia Copilului« übrigens inzwischen gesehen und für gut befunden.

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