»Erst jetzt ist er ein wirklicher Mohr«

Zum 130. Todestag von Karl Marx - Die letzte Reise des Philosophen

  • Marlene Vesper
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein vergilbtes Bildoval. Weißgerahmt der kluge Kopf. Gütige Augen ermuntern gleichsam zum stummen Dialog. Winzige Lachfältchen runden ausdrucksvoll das Antlitz des 64-Jährigen. Das letzte Foto von Karl Marx, aufgenommen in Algier. In südlicher Hemisphäre steht sein Entschluss fest, rigoros: Haupt- und Barthaar müssen fallen. Einem Brief an Friedrich Engels vom 28. April 1882 fügt er an: »Apropos, vor der Sonne habe ich den Prophetenbart und die Kopfperücke weggeräumt, aber (da meine Töchter dies besser haben) mich photographieren lassen vor Haaropfer auf Altar eines algerischen Barbiers.«

Die »SAID« legt am 18. Februar 1882 in Marseille ab. Das Dampfschiff braucht mehr als 34 Stunden für die Überfahrt. Am Montag, den 20. Februar 1882, »um halb Vier in der Früh«, betritt der »Mohr« - wie ihn die Seinen liebevoll nennen - erstmals afrikanischen Boden. Ein Mann um die Vierzig eilt auf ihn zu. Albert Fermé, Jurist und seit zwölf Jahren in Algerien, erkennt sofort den Kopf der sozialistischen Internationale. Er entbietet dem Weitgereisten ein freundschaftliches »Bienvenue«. Tags zuvor erst hat ein Brief aus Paris Fermé über die bevorstehende Ankunft des deutschen Philosophen unterrichtet. Mit großer Freude kommt er der Bitte seines langjährigen Freundes Charles Longuet, verheiratet mit Marxens ältester Tochter Jenny, nach. Es ist ihm eine Ehre, Marx während seines Aufenthaltes in Algier zu betreuen. Dass dessen Kur von Erfolg gekrönt sein wird, wird das Verdienst des deutschstämmigen, in Algier geborenen Arztes Dr. Eugene Stéphann sein.

Die Töchter und Engels haben Marx zu dem »Gesundheits-Wiederherstellungsmanöver« überredet. Den schweren Schicksalsschlag, den Tod seiner innig geliebten Frau und Mitstreiterin Jenny, hat er noch nicht verkraftet. Wie könnte er. Fermé führt seinen Gast an der Pêcherie, dem Fischereihafen, und der Moschee Djamâa el Djedid vorbei zur prachtvollen Uferpromenade, wo das majestätische »Hotel d›Orient‹« Blickfang ist. Der Neuankömmling nimmt hier Logis, bis eine andere passende Unterkunft gefunden wird. Als Fermé, wie verabredet, in den frühen Nachmittagsstunden des 20. Februar ins »Hotel d›Orient‹« zurückkehrt, sieht er den Gast in Reiseführern vertieft. Obwohl das Wetter ungünstig ist, brennt Marx darauf, die Stadt zu erkunden. Später allerdings wird er »Good Fermé« zu verstehen geben, »daß ich ein Invalide (bin)« und »daß Ruhe, Einsamkeit und Schweigsamkeit mir Bürgerpflicht«. Zudem, Marx führt im Reisegepäck sein »Kapital« mit, den unfertigen zweiten Band. Johann Philipp Becker urteilt: »Das ist ein Schwert und Harnisch für uns, eine Angriffs- und Verteidigungswaffe.« Doch sie muss noch feingeschliffen, das Manuskript korrigiert, überdacht werden.

Trotz der Arbeit am »Kapital« entgeht Marx, der inzwischen in der Pension »Victoria« hügelan logiert, nichts von dem, was in »Alger La Blanche« geschieht. Der Aufreger der Tage ist ein Sendbote des »Heiligen Russlands«. Am Ostersonntag macht der Panzerkreuzer »Peter der Große« am Kai von Algier fest, für zehn Tage. Das kolossale Schiff ruft lebhaftes Interesse hervor. Die Zeitungen überschlagen sich mit Berichten: »Die russischen Offiziere halten sich dankenswerter Weise ganz zur Verfügung der Besucher und legen die exquisiteste Freundlichkeit an den Tag. Die Wißbegierigen können die geniale Konstruktion des Schiffes bewundern, die es in die Lage versetzt, sich dem feindlichen Feuer in bestmöglicher Weise zu widersetzen.« Für Marx steht fest, dass auch er »Peter den Großen« in Augenschein nehmen muss. Zwar ist der »General« für alles Militärische zuständig, aber Engels weilt ja in der fernen Stadt an der Themse. Marx wird ihn brieflich von seinem Besuch auf dem Schiff, das als »Russisches Wunder« gepriesen wird, berichten. Wie auch Tochter Laura, die den französischen Sozialisten Paul Lafargue geehelicht hat. (Aus 73 Algiertagen sind sechzehn Briefe überliefert, neun an Engels und sieben an die Familie in London und Paris.)

Marx' Interesse an der »Militaria zur See« wird wachgehalten. Denn, kaum ist das russische Schlachtschiff fort, fährt ein französisches Marinegeschwader mit dem Panzerkreuzer »Colbert« in den Hafen von Algier ein. Ohne Zweifel eine Herrschaftsdemonstration der Kolonialmacht. Seit 1881 machen Aufständische den Franzosen in Algerien zu schaffen. Marx besichtigt auch die »Colbert«, studiert die Landemanöver: Hier wird der Überfall für den Ernstfall geprobt.

Mit der Leidenschaft wahrer Internationalisten haben Marx und Engels immer wieder die barbarische Kolonialpolitik der europäischen Großmächte angeprangert, die Bedeutung des schwarzen Kontinents im System des Kapitalismus aufgedeckt und den trotz einschränkender Gesetze florierenden Sklavenhandel enthüllt. Von Marx stammt der Ausspruch, dass Afrika verwandelt wurde »in ein Gehege zur Handelsjagd auf Schwarzhäute« und dies »die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära« einleitete. Schon im »Elend der Philosophie« schrieb er: »Nur die Sklaverei hat den Kolonien ihren Wert gegeben; die Kolonien haben den Welthandel geschaffen; und der Welthandel die Bedingung der Großindustrie. So ist die Sklaverei eine ökonomische Kategorie von größter Wichtigkeit.« Marx und Engels brachten den Europäern auch den nationalen Befreiungskampf zur Kenntnis, nicht nur den Aufstand in Indien. Große Aufmerksamkeit beider erfahren auch die antikolonialen Aktionen und Erhebungen in Algerien, Marokko und Ägypten. Marx ist überzeugt, dass die national unterdrückten Völker sich politisieren und radikalisieren werden, weil sie - wie er es in einem Brief aus Algier formuliert - »zum Teufel gehen ohne eine revolutionäre Bewegung«.

Die Tage in Algier vergehen wie im Fluge. Die Heimreise steht an. Marx will den Seinen kleine Geschenke mitbringen. Auf einem Basar wird er fündig: orientalischer Schmuck für die Töchter und ein arabischer Krummdolch für seinen Engels.

Am Dienstag, den 2. Mai 1882, punkt sechs Uhr abends, lichtet die »PELUSE« mit Marx an Bord den Anker. In Paris angelangt, kündigt sein Schwiegersohn Lafargue in einem Brief nach London Engels den Heimkehrer enthusiastisch an: »Marxens Anblick hat mich zutiefst erfreut - er hält sich gerade, seine Augen sind funkelndes Leben, mit einem Wort, er scheint viel gekräftigter als damals, als er London verließ ... Marx ist zurückgekehrt, den Kopf voller Afrika und Araber. Er hat seinen Algerienaufenthalt genutzt, seine Bibliothek wiederzuentdecken und es scheint mir, daß er eine beträchtliche Zahl größerer Werke zur Lage der Araber gelesen hat. Außerdem muß ich Dir sagen, daß Marx braun wie eine Kastanie ist, er ist jetzt ein wirklicher Mohr.«

Von Marlene Vesper erschien 1995 im Pahl-Rugenstein Verlag Bonn »Marx in Algier«.

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