Lockruf zu einem Irrweg
Wenn man die vorhandene Arbeit umverteilt, dann hat jeder welche - und es gibt keine Arbeitslosigkeit mehr. Das ist der Tenor eines Aufrufs, der von etwa 200 Politikern und Wissenschaftlern unterzeichnet wurde. Diejenigen, die Arbeit haben, sollen weniger arbeiten - dafür soll ihr Lohn lediglich um einen Inflationsausgleich erhöht werden. Die Arbeitszeitverkürzung wird durch die Produktivitätsfortschritte finanziert. Klingt einfach und einleuchtend. Ist es aber nicht, sondern allzu simpel und rückwärtsgewandt.
Es wird unterstellt, dass der Gesellschaft irgendwie die Arbeit ausgehe. Gewiss gibt es immer Produktivitätsfortschritte, durch Rationalisierungen wird Arbeitskraft ersetzt. Das gab es schon immer. Dennoch gibt es in diesem Land viel zu tun - es wird aber nicht in Angriff genommen. Beispielsweise lebt man vielerorts bei der öffentlichen Infrastruktur inzwischen von der Substanz; das gilt für Straßen wie für Gebäude - etwa Schulen. Und obwohl Deutschland zur Bildungsrepublik ausgerufen wurde, fallen unzählige Unterrichtsstunden aus. Die Liste von Beispielen lässt sich fortsetzen.
Der öffentlichen Hand fehlt das Geld, was unter anderem auch an einer Steuerpolitik liegt, die in erheblichem Maße die Bezieher hoher Einkommen und die Vermögenden begünstigt hat. Diese Politik ist aber natürlich nicht Gotteswerk. Zu unterstellen, dass die Arbeit ausgeht, verweist auf eine schicksalsergebene Haltung. Überdies sollte einmal erklärt werden, warum denn reichere Staaten - die Schweiz oder manche skandinavischen Länder - ein deutlich höheres Beschäftigungsniveau als die Bundesrepublik aufweisen. Eigentlich müsste denen doch schon längst die Arbeit ausgegangen sein - oder?
Es scheint die Vorstellung einer gewissen Saturiertheit - vielleicht auch noch ökologisch verklärt - hinter dem Aufruf zu stecken. Sie trifft aber ganz gewiss nicht die gesellschaftliche Realität in Deutschland.
Völlig ausgeblendet bleibt, dass die Arbeitslosigkeit sehr ungleich verteilt ist. Betroffen sind vor allem Personen ohne Berufsausbildung. Auf sie entfallen mehr als 40 Prozent aller Arbeitslosen, aber - ohne Auszubildende - gerade einmal 10 Prozent aller abhängig Beschäftigten. Die Arbeitslosenquote der Ungelernten liegt bei 30 Prozent. Es müsste also vor allem einfache Arbeit umverteilt werden.
Denn es hilft keinem Ungelernten, wenn ein Klinikarzt oder Professor weniger arbeitet, da es ihm an den Fähigkeiten mangelt, eine Operation durchzuführen oder eine Vorlesung zu halten. Und in der Realität ist es doch auch so, dass viele Arbeitnehmer gern mehr verdienen möchten - und deshalb überhaupt keine Arbeitszeitverkürzung wollen. Will man diese zu verminderten Arbeitszeiten zwingen?
Der Aufruf passt auch nicht zu der Forderung von manchem seiner Unterzeichner nach hohen Mindestlöhnen. Einerseits will man die Löhne (plus Inflationsausgleich) einfrieren, damit keine Arbeitsplätze abgebaut werden, andererseits will man durch die Einführung von Mindestlöhnen bis zu zehn Euro die niedrigen Entgelte kräftig aufstocken. Was denn nun? Und wer soll eigentlich kontrollieren, dass der Verzicht auf Lohnsteigerungen über die Inflation hinaus tatsächlich zu zusätzlichen Einstellungen führt?
Die Erfahrungen in der Vergangenheit - etwa in der Metall- und Elektroindustrie oder im öffentlichen Dienst - haben doch vielmehr gezeigt, dass eben nicht im entsprechenden Maße die Zahl der Arbeitsplätze ausgeweitet wurde. Auf die Arbeitszeitverkürzungen wurde mit Rationalisierung und einer Flexibilisierung der Arbeit reagiert. Warum sollte das in Zukunft anders sein? Da ist wohl mehr der Wunsch der Vater des Gedankens. Egal, ob man die Löhne anhebt oder bei gegebenen Löhnen die Arbeitszeit verkürzt - in beiden Fällen steigen die Stundenlöhne. Es geht also um die Verteilungsfragen.
Und die Erfahrungen sollten auch gelehrt haben, dass es bei früheren Arbeitszeitverkürzungen eben nicht zu einem vollen Lohnausgleich kam. In Deutschland sind aber angesichts der schon chronisch schwachen Binnennachfrage höhere Löhne dringend erforderlich. Es ist auch mehr Umverteilung nötig - aber nicht unter den Arbeitnehmern bei der Arbeitszeit, sondern in der Gesellschaft von oben nach unten.
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