»Wir sind keine ...«
Ein Potsdamer Theaterprojekt über rassistischen und rechtsextremen Alltag
Der Boden schwankt. Ein quadratisches Spielfeld, wie ein Floß. Es bewegt sich, bildet Schrägen: Wo etwas aufsteigt, fällt anderes. Wo zum Beispiel der Rassismus aufsteigt, sinkt der Zivilisationsgrad. Wie die Temperatur sinkt, wenn Kälte wächst. Die Fallhöhe einer Gesellschaft. Unsere Gegenwart.
Eine ältere Frau schabt an den Bühnenaufbauten, wischt, kratzt. Irmela Mensah-Schramm, eine europaweite Pilgerin - hin zum Schlimmen: zu Nazizeichen in der Öffentlichkeit. »Politputze« nennt sie sich. Sie hat bereits 57 093 Aufkleber entfernt, sie wird uns ihre Instrumente zeigen: scharfer Schaber, zudem Nagellackentferner, Farbspray, Fotoapparat. In allen Bundesländern hat sie schon gekratzt, übersprüht, abgerissen - nur im Saarland noch nicht. »Zecken-Oma« nennen sie die Nazis, stellten ihr Foto wie einen Steckbrief ins Internet.
»Mit Tötungsdelikten ist zu rechnen« heißt das Projekt am Hans-Otto-Theater, konzipiert von Lea Rosh und Renate Kreibich-Fischer, inszeniert von Clemens Bechtel. Ein Abend über rassistischen und rechtsextremen Alltag in Deutschland. Ein Dokumentarspiel. Das kräftigste Dokument: der gelebte Charakter derer, die hier auftreten. Laien im Bühnenlicht, aber Experten im Finsteren, das sie aufklären. Hier wird Kraft zur schönsten Schwäche: Ich gebe mich preis. Leistung, die hoch zählt in dieser Zeit.
Spürbar die Unsicherheit beim Auftritt. Sie adelt, erzählt von Bescheidenheit, von eingesickerter Furchtsamkeit vielleicht auch. Es berührt daher, wenn der Aussteigerhelfer dem Ex-Nazi die Hand um die Schulter legt. Betroffene, Beteiligte reproduzieren an diesem Abend Erfahrung, und mit dem Wagnis der Selbstdarstellung nimmt gewiss die Selbstempfindung zu. Das gelingt nur durch Vertrauen zu besagtem Wagnis. Durch Öffentlichkeit also. Deutschland befragen, was geschieht. Sich selber befragen, was man tut. Wo doch jeder Tag mit seinen Überforderungen lockt, zu Ausflügen ins Charakterlose - Leben ist so. So gefährlich. Dieser Abend offenbart, dass es immer auch dies gibt: Wehr gegen die moralische Ermüdbarkeit.
Da ist Manuela Ritz, die Sozialpädagogin, die sich fragt, ob sie zum deutschen Volk gehört. Seltsame Frage für eine, die in Deutschland geboren wurde, in der DDR. Geboren freilich mit dunkler Hautfarbe, ein Mädchen aus dem sächsischen Mügeln, einer Nazihochburg, wo man eines Tages Ausländer hämisch, grinsend hasserfüllt durch die Straßen hetzt und die Leute plötzlich zu erstarren scheinen und also so gar nichts tun können - so wie jene, die im Märchen zu Stein werden. Das hier ist kein Märchen, aber der Stein, der stimmt. »Wann gehst du wieder zurück?« wird Manuela gefragt. Hakenkreuz an der Wohnungstür, Spucke im Gesicht. Verwilderung, die nicht Natur ist, wie sie ein Garten betreibt, sondern Verwilderung, die eine Gesellschaft überzieht; Unkultur mitten in der Kultur.
Da ist Lothar Priewe, der dem Ex-Nazi Kevin Müller beim Ausstieg half und Schulprojekte gegen Rassismus organisiert - der 15-jährige Sohn wird dafür gemobbt, kam mit Würgemalen nach Hause. Da ist auch einer (dessen Name verborgen bleibt), der in Berlin rechtsextreme Vorfälle sammelt und dokumentiert - 182 »Tötungsdelikte« seit 1990 sind der bittere Höhepunkt der Entwicklung. Da ist auch die SPD-Politikerin Dr. Eva Högl vom Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Morde des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) - sie fragt angesichts so vieler institutioneller Ermittlungsfehler und so zahlreicher Nachlässigkeiten der Polizei bei rassistischen Vorfällen nach Ähnlichkeiten im Denken von Rechtsextremen und dem Schutzpersonal des Rechtsstaats. Abends muss sie gute Bücher lesen, um den ganzen Dreck nicht weiter an sich ranzulassen.
Spiel, Tondokumente (so etwa die Lichtenhagen-Brüllerei: »Rostock bleibt deutsch!«), Schriftprojektionen. Der Verweis auf das offizielle Trauer- und Mahnritual, das oft über den realen Zustand des gesellschaftlichen Denkens hinwegtäuscht - Problembewältigungsroutine durch Sonntagsreden. Der Hinweis auch darauf, dass sich im Osten die FDJ einst um eine kulturelle Freizeit sorgte, die dann an der »Tanke« oder an der »Busse« in der Flasche und im nationalen Gemulme versiffte.
Drei junge Schauspieler (Magda Decker, Kolja Heiss, Michel Diercks) entwerfen Skizzen von »netten Leuten«: das NSU-Terrortrio; und sie entwickeln in schlagwortartigen, pantomimischen Szenen temporeich, oft provokativ nah beim Publikum, ein Bild des gesellschaftlichen Gemüts - duckeifrige Anpassung, bürgerlich stotternde Hilflosigkeit. Einmal preschen sie nach vorn, nur immer in Wiederholungsschleife beschwörend: »Wir sind keine ...«. Satzabbruch. Nein, sind wir nicht. Keine Nazis, keine Feiglinge, keine Abwiegler, keine schweigende Mehrheit. Nie ist jemand wirklich schuld am Katastrophischen. Manuela Ritz: »Wenn wir von Rechtsradikalismus sprechen, dann sprechen wir von einer Handvoll Leute. Wenn wir von Rassismus sprechen, sprechen wir von einer Lebensrealität.«
Aber es gibt kein Delegiersystem für Verantwortung. Sagen diese Leute da auf der Bühne. Sie sagen's nicht, sie mahnen nicht, sie postulieren nicht. Sie erzählen, von sich. Aus diesem Abend strahlt etwas, das man vielleicht Zurechnungsfähigkeit nennen könnte. Man ist plötzlich auf verstärkte Art nicht mehr ausgenommen von dem, was Deutschland ist.
Es gehört zu den bewegendsten Szenen, wenn Manuela Ritz und Ex-Nazi Kevin Müller sich anschauen, beide auf der schwankenden Plattform. Lange Blicke. Der Täter und sie, das Opfer. Müller war »Nazi der ersten Stunde«. Er propagierte den faschistischen Antikapitalismus, malte gern am »jüdischen Satansbild«. Erzählt, wie die Kameraderie für ein paar wertlose Auskünfte Geld vom Verfassungsschutz bekam. »2008. In einer Garage in der Uckermark. Vor mir junge Leute. Meine Aufgabe war es, ihnen nationalistische Gedanken nahezubringen.«
Bis Kevin Zeuge einer Gewalttat wurde. Er sah, wie die Idee ihr Messer zog. Er stieg aus. Stieg ein: ins warnende Gegenprogramm, an Schulen etwa. Ein kräftiger Bursche. Er riskiert viel: Er ist sichtbar, er lässt sich anschauen. Er muss den Zorn, die Verachtung wegschleppen, die der Stoff auslöst - dem er sich entwand.
Manuela blickt ihn an. »Und wie denkst du heute?« Diese und andere Fragen. Bohrende Fragen. Blicke. Zwei halten einander aus. Zur Stärke dieser Momente gehört, dass »nur« die Fragen an Kevin den Raum füllen, er antwortet nicht. Bloß keine Vereinfachung, keine Phrase. Er steht nur, still. Es gibt eine Arbeit hinter den Stirnen, die will nicht immer gleich das erwartete Wort vorzeigen - wäre sie sonst als schwere Arbeit erkennbar? Gewissen - es ist die kostbarste, empfindlichste Form des Selbstgeprächs. Hier hat es eine Öffentlichkeit, um neu und stark begriffen zu werden.
Zur Zeit laufen Vorbereitungen für eine Tournee dieses Projekts.
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