Richter zweifelt an Mietwerten
Berliner Senatsverordnung für Kosten der Unterkunft erstmalig für fehlerhaft erklärt
Der Fall ist ein absolutes Novum. Erstmalig hat ein Richter des Berliner Sozialgerichts entschieden, dass die Wohnaufwendungenverordnung (WAV) bei einem ALG-II-Empfänger nicht anzuwenden ist (Az.: S 37 AS 30006/12). In der WAV hat der rot-schwarze Senat vor knapp einem Jahr für ganz Berlin geregelt, welche Richtwerte für Mieten und Heizkosten bei ALG-II-Empfängern gelten (siehe Kasten). »Nach der Entscheidung der 37. Kammer des Sozialgerichts ist die WAV rechtsfehlerhaft«, bestätigt der Sprecher des Berliner Sozialgerichts, Marcus Howe, gegenüber »nd«.
In dem konkreten Fall hatte der ALG-II-Bezieher sich gegen Nachzahlungsansprüche des Jobcenters Friedrichshain-Kreuzberg gewehrt. Für seine 53 Quadratmeter große Zweiraumwohnung musste der Mann bis August 2011 monatlich 405,85 Euro Warmmiete zahlen; aufgrund einer Anpassung der Vorauszahlungen für Heizung und Warmwasser seitdem sogar 420 Euro. Das Jobcenter trug davon bis April 2012 lediglich 378 Euro und ab Mai 2012 schließlich 405 Euro. Die Differenz bezahlte der Betroffene aus seinem Arbeitslosengeld. Zu Unrecht, wie das Gericht jetzt feststellte.
● Die sogenannte Wohnaufwendungenverordnung (WAV) ist seit dem 1. Mai 2012 in Kraft. In ihr sind die Richtwerte für angemessene Wohnkosten abhängig von der Größe der Bedarfsgemeinschaft, der beheizten Fläche des Wohngebäudes und vom jeweiligen Heizenergieträger für ALG-Empfänger differenziert ausgewiesen.
● Einen Einpersonenhaushalt werden demnach durchschnittlich 394 Euro monatlich für Miete und Wohnung erstattet. Ein Elternpaar mit zwei Kindern erhält im Durchschnitt 665 Euro pro Monat.
● Die Richtwerte sind an den Berliner Mietspiegel bzw. an den bundesweiten Heizspiegel gekoppelt. MK
Der Anwalt des Betroffenen, Kay Füßlein, hofft nun, dass das Urteil auf ähnlich gelagerte Fälle in Berlin ausstrahlt. »Die Wohnaufwendungenverordnung ist schlecht gemacht«, sagt er. Laut der Verordnung soll der Mietpreis in einfachen Wohnlagen 4,91 Euro pro Quadratmeter betragen. »Diese Mieten schaffen Sie berlinweit nur in drei, vier Straßenzügen - und das sind erhebliche soziale Brennpunkte«, so Füßlein. Die rasanten Mietsteigerungen und explodierenden Energiekosten treffen die ALG-Empfänger also mit Wucht. Eine der Ursachen ist, dass sich die Mietwerte des Senats am Mietspiegel 2011 orientieren, die Werte der WAV sind also überholt. Das stellt auch das Sozialgericht in seiner Urteilsbegründung fest: »Die Werte sind ohne Substanz.«
Rechtsanwalt Füßlein berichtet, dass die Jobcenter in Berlin derzeit in rund 60 000 Fällen sogenannte Leistungssenkungsmaßnahmen eingeleitet haben. Das heißt, die Betroffenen müssen sich innerhalb eines halben Jahres eine billigere Wohnung suchen, oder sie zahlen die zu teure Miete aus dem Regelsatz. Doch wo sollen 60 000 Menschen in Berlin derzeit eine günstige Wohnung finden?
Das kritisiert auch die Opposition im Abgeordnetenhaus. »Wir fordern den Senat erneut auf, die WAV sofort zu überarbeiten und die Richtwerte endlich den Realitäten auf dem Wohnungsmarkt anzupassen«, sagt etwa die sozialpolitische Sprecherin der LINKEN, Elke Breitenbach.
Doch auch wenn der Urteilsspruch des Berliner Sozialgerichts aufhorchen lässt, bleibt es zunächst eine individuelle Entscheidung. »Das hat keine Auswirkung auf andere Fälle«, betont Gerichtssprecher Marcus Howe. Ob das Urteil Bestand hat, wird sich nun in der nächsten Instanz zeigen, denn das Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg hat gegen das Urteil Rechtsmittel eingelegt, wie ein Sprecher gegenüber »nd« bestätigt. Das Jobcenter fordert für die Berufung auch eine Stellungnahme des Senats.
In der Verwaltung von Sozialsenator Mario Czaja (CDU) misst man dem Urteil der 37. Kammer indes ebenfalls keine weitergehende Bedeutung zu. »Die Wohnaufwendungenverordnung ist weiterhin anzuwenden«, erklärt Czajas Sprecherin Franciska Obermeyer.
Betroffene, Anwälte, Richter und Politiker blicken jetzt allesamt zum Bundessozialgericht nach Kassel: Dort ist eine Normenkontrollverfahren gegen die Wohnaufwendungenverordnung seit September 2012 anhängig. Hier steht die gesamte WAV auf dem Prüfstand. Wann die Bundesrichter dazu Recht sprechen, steht allerdings noch nicht fest. »Damit betreibt Czaja Politik auf Kosten der Betroffenen«, kritisieren die Grünen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.