Gerichtstag in Kiew
Als Beobachter in einem weiteren Prozess gegen Julia Timoschenko
Massenproteste, Fahnenmeere und Stürme der Entrüstung? Die Realität ist ernüchternd: Am Tag der Zeugenanhörung vor dem angestrebten Mordprozess gegen Julia Timoschenko haben sich gerade einmal 20 Demonstranten vor das Kiewer Strafgericht verirrt. Eine Kette aus Bereitschaftspolizisten in voller Montur achtet peinlich genau darauf, dass nur eine etwa doppelt so große Zahl von Journalisten und Prozessbeobachtern das Hochhaus im Stadtteil Solomenski betritt. Mehr sind auch nicht erschienen. Einer nur wird abgewiesen: ein stadtbekannter Krawallmacher.
Die Beobachter hoffen auf die Anwesenheit der ehemaligen »Gasprinzessin«. Vergebens. »Die Staatsmacht will um jeden Preis verhindern, dass sie am Prozess teilnimmt«, verkündet ihr Verteidiger Sergej Wlassenko, während die Staatsanwaltschaft genau das bestreitet - Timoschenko weigere sich, aus der Krankenhaushaft in Charkiw anzureisen.
Zum Beweis veröffentlicht anderntags die Gefängnisverwaltung drei Videos, die zeigen, wie man der Politikerin ihre Vorladung präsentiert. Timoschenko selbst wiederholt in den kurzen Clips mehrmals, dass eben diese Videos eine Fälschung seien ...
Wie so oft in diesem Land liegt die Wahrheit wohl im Auge des Betrachters.
Das Verbrechen, an dem Julia Timoschenko beteiligt gewesen sein soll, liegt mittlerweile 16 Jahre zurück: Im November 1996 starb der Geschäftsmann und Politiker Jewgeni Schtscherban im Kugelhagel eines Killerkommandos auf dem Donezker Flugplatz. Auftragsmorde waren kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beim gewaltsamen Verteilen des Staats- und Volkseigentums an der Tagesordnung. Gouverneur des Gebietes Donezk war damals Wladimir Schtscherban - mit dem Opfer weder verwandt noch verschwägert, wohl aber befreundet. Nun soll er bei einer Anhörung Licht ins kriminelle Dunkel bringen.
»Die erwischen mich überall. Ich weiß, was passiert«, soll Jewgeni Schtscherban dem Gouverneur wenige Monate vor seinem Tod bei einer Reise zu den Olympischen Spielen in Atlanta anvertraut haben. Bei »denen« handelte es sich laut Schtscherban um Timoschenko und ihren Partner Pawel Lasarenko, seinerzeit ukrainischer Regierungschef. Ein Motiv gibt es auch: Timoschenkos Gasfirma EESU und Schtscherbans ISD lieferten sich einen Kampf um die Vorherrschaft auf dem ukrainischen Markt. Lasarenko soll damals erheblichen Druck auf den Geschäftsmann aus Donezk ausgeübt haben - ohne Erfolg.
Etwa drei Millionen Dollar, so haben die Ermittler festgestellt, sollen daraufhin an ein elfköpfiges Todeskommando geflossen sein, um Schtscherban aus dem Weg zu räumen. Das Geld kam von einem Lasarenko-Konto auf Zypern, auf das Timoschenko zuvor mehrere Millionen eingezahlt hatte. Die EESU-Chefin selbst soll zudem die Killer im Kiewer Hotel »National« gebrieft haben.
Tatsächlich erlangte Timoschenkos Unternehmen nach Schtscherbans Tod die Kontrolle über die Region Donezk. Lasarenko soll davon durch eine Gewinnbeteiligung von 50 Prozent profitiert haben, konstatieren die Ermittler heute. Fakt ist, dass eben jener Lasarenko, der es sogar für die damaligen Wildwestverhältnisse in der Ukraine zu bunt trieb, später wegen diverser Verbrechen angeklagt wurde und fluchtartig das Land verließ. 1999 wurde er bei der Einreise in die USA festgenommen und dort zu neun Jahren Haft verurteilt.
Obwohl viele Indizien also für eine direkte oder indirekte Beteiligung Timoschenkos an einem Auftragsmord sprechen, muss die Staatsanwaltschaft im Verlauf des Prozesses stärkere Geschütze als den ehemaligen Donezker Gouverneur auffahren. Bei seiner Anhörung offenbart er oft Erinnerungslücken. Vielleicht überzeugt einer wie Wadim Bolotskich, der damals die Schüsse abgegeben haben soll und bereits lebenslang einsitzt. Ob eine lückenlose Aufklärung der damaligen Vorgänge überhaupt gelingt, bleibt zu bezweifeln: Zu viel Zeit ist seither - auch während der Amtszeit einer Ministerpräsidentin Timoschenko - damit verbracht worden, Spuren zu verwischen, statt Verdachtsmomenten nachzugehen.
Die Ukrainer scheint das indes auch nicht mehr so richtig zu interessieren, die Bevölkerung jedenfalls beschäftigt am Tag der Anhörung Anfang März viel mehr der Staatsbesuch von Präsident Viktor Janukowitsch bei seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Da geht es um die Frage, ob die Ukraine einer Zollunion mit Russland beitreten soll - unter anderem, um einen Preisnachlass auf die enorm hohen Gaskosten zu erhalten, die das Land seit jenem Charkiwer Abkommen von 2009 leisten muss. Der Staatskonzern Naftogaz unterschrieb damals auf Anraten von Ministerpräsidentin Timoschenko einen äußerst unvorteilhaften Vertrag, der die Ukraine laut Schätzungen bereits 300 Millionen Dollar gekostet haben soll. Deshalb wurde sie im ersten Prozess verurteilt.
Zwei Tage nach Wladimir Schtscherban hörte das Kiewer Gericht Alexandra Kushel, eine Abgeordnete aus der Timoschenko-Partei »Batkivshchyna« (Vaterland). Deren Aussagen, berichtet die »Ukrainska Pravda«, hätten »Unstimmigkeiten« enthalten. Wie es heißt, will man nun den bereits verurteilten Wadim Bolotskich befragen, ein Termin steht jedoch noch nicht fest. Und man kann weiter gespannt sein, ob auch die »Gasprinzessin« irgendwann kommt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.