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Blick von unten auf die DDR
Birk Meinhardt erzählt die Familiengeschichte der Werchows
Dass die DDR die deutsche Gegenwartsliteratur als Thema besetzt hält, heißt wohl, dass lange noch nicht alles gesagt ist. Birk Meinhardt kann mit seinem Roman für sich in Anspruch nehmen, dem Vielen noch etwas hinzugefügt zu haben. »Brüder und Schwestern« ist ein Familienroman geworden und glaubt man dem Postscriptum auf Seite 700, dann wird die Familiengeschichte der Werchows fortgesetzt.
Die Werchows: Das sind Vater Willy Werchow, Leiter einer SED-eigenen Druckerei mit 1000 Beschäftigten im thüringischen Gerberstedt, seine stille Ehefrau Ruth, die eines frühen Romantods stirbt, und ihre drei Kinder: Erik, Matti und Britta. Ihren Weg durch die Jahre 1973 bis 1989 erzählt der Roman. Anders als Uwe Tellkamp es im »Turm« unternommen hat, geht es Meinhardt - für den studierten Journalisten und Reporter ist es der dritte Roman - um den Blick von unten. Nicht bürgerliche Lebenswelt auf Dresdens Weißem Hirsch, sondern DDR-Familienalltag.
Willy erwischt es zuerst. Bücher will er drucken, doch zwingt ihn die Mangelwirtschaft zu Kompromissen. Er weiß, dass er gegen seine Wertvorstellungen - auch die von gutem, holzfreien Papier - zu verstoßen hat, um überhaupt weitermachen zu können. Und er quält sich damit. Scheut sich nicht, für seine Kinder einzutreten, als Britta von der Oberschule geworfen werden soll. Sie hat 1976 aus Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann ein Biermann-Gedicht an die Wandzeitung geheftet. Als der Kreisparteichef, bei dem Willy interveniert, mit Begnadigung lockt, wenn Britta vor der versammelten Schule ihr Tun als Fehler eingesteht, weiß Werchow, dass er seiner Tochter damit nicht kommen kann. Britta muss die Schule verlassen und geht zum Zirkus, der in Gerberstedt zufällig sein Winterquartier hat.
Der Älteste, Sohn Erik, hingegen tut das Verlangte. Er distanziert sich an der Uni weisungsgemäß von seiner Schwester, weil er sein Studium retten will. Sein Lebensziel ist der Außenhandel, diese Freiheit lässt er sich auch von der Schwester nicht versauen. Dass es später doch anders kommt, er nur im RGW eingesetzt wird, also in Osteuropa, hat er nicht gedacht. Matti, der Mittlere, verzichtet unter diesen Bedingungen aufs Studium, geht zur Binnenschifffahrt und beginnt einen Roman zu schreiben.
Die Bilanz der Romanfiguren fällt für die DDR nicht gut aus: Der Vater, der einst schwungvoll mit Nebenfrau und Nebenkind das Leben zu gestalten versuchte, verliert seinen Enthusiasmus. Zwei seiner Kindern verweigern Studium und Karriere. Den Roman »Brüder und Schwestern« durchzieht eine große Desillusionierung. - Doch Leben im Blendlicht wie im Schatten von Politik, das ist nicht der ganze Roman.
Das DDR-Bild des Romans zeigt viel mehr Facetten. Mattis Ein-Tags-Liebe mit seiner Deutschlehrerin Karin Werth, der skurrile Blumenzüchter Jagielka, der erst Gerberstedt, später halb Thüringen und gegen seinen Willen bald West-Berlin mit frischen Schnittblumen beliefert, die Welt eines privaten Kleinzirkus, die Welt der Binnenschiffer und am Ende noch die eisernen Fans von Eisern Union - da kommt vieles ins Bild, was den Beteiligten ihr kleines Glück bedeutet hat und den Leser gut unterhält.
Birk Meinhardt, 1959 in Berlin, DDR, geboren, weiß, wovon er schreibt, er kannte den Lebensalltag, und der Leser lernt ihn mit ihm verstehen.
Doch auch das wäre noch nicht so außergewöhnlich, dass es einen 700-Seiten-Roman lohnte. Für den Roman nehmen seine Figuren ein. Vor allem Mattis naiver Idealismus, der sich in der Romantik der Flussschifffahrt sein Leben einrichtet, macht die Figur einprägsam. Und wie ausbalanciert die Figuren gebaut sind, dafür steht in exzellenter Weise Familienpatron Willy Werchow. Als Matti seinen Bruder Erik dafür angreift, dass er seine Schwester verraten hat, wird Erik vom Vater verteidigt, und es kommt - wie an vielen Stellen - zu einem großen Dialog.
Vater Willy nimmt auf sich, von Erik zu oft Verständnis verlangt zu haben. Am Ende verstand Erik alles und sein Widerstandsgeist war aufgebraucht. Diese Einübung, sich zu beugen, fand durchaus nicht nur auf politischem Terrain statt. Erik musste das Kinderzimmer räumen, als Britta geboren wurde. Erik gehorchte und gehorchte später immer öfter. Bei Birk Meinhardt ist ein Vater ein Vater, die Kinder sind als Erwachsene seine strengsten Kritiker und stehen am Ende bewegt an seinem Totenbett.
Dem Familienroman »Brüder und Schwestern« wird alles gegeben, was er braucht, nicht nur das Leben in der DDR. Nur etwas fehlt dem Roman: ein einheitlicher Stil.
Birk Meinhardt: Brüder und Schwestern. Roman. Hanser. 700 S., geb., 24,90 €.
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