Deutschland - nicht wiederzuerkennen

23. März 1933: Ein Ermächtigungsgesetz ersetzt die Weimarer Verfassung und ebnet den Weg in die Diktatur

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 6 Min.
Nur wenige Wochen nach dem 30. Januar 1933 versetzte die Mehrheit der am 5. März gewählten Reichstagsabgeordneten den verbliebenen Resten parlamentarischer Demokratie und damit der Weimarer Verfassung den Todesstoß: Sie stimmte am 23. März, zwei Tage nach dem Spektakel von Potsdam, einem Gesetz zu, das der Regierung außerordentlich umfassende Vollmachten zubilligte.

Ein kurzer Text nur, gefasst in fünf dürre Paragrafen, doch riesengroß seine Auswirkungen; triumphierend durften ihn die braunen Machthaber als ihr »Reichsführungsgesetz« bewerten. Vor allem sprach das sogenannte Ermächtigungsgesetz der Hitler-Regierung grundsätzlich das Gesetzgebungsrecht zu. Dies sollte auch für Artikel 85 und 87 der Verfassung gelten, die das Haushaltsrecht - zentrale Machtposition jedes Parlaments - betrafen. Ausdrücklich hieß es, die nunmehr allein von der Regierung zu beschließenden Gesetze können von der Verfassung abweichen. Schließlich sollten auch die Verträge mit anderen Staaten keiner Zustimmung mehr durch die »an der Gesetzgebung beteiligten Körperschaften« bedürfen. Das alles bedeutete: Übertragung der legislativen Rechte an die exekutive Macht. Selbst eine Mitwirkung des Reichspräsidenten an neuen Gesetzen war nicht mehr vorgesehen. Der Verfassungsgrundsatz, eine Gewaltenkonzentration auf ein Staatsorgan, eine Partei oder eine Person zu verhindern, wurde völlig aufgehoben, somit auch das Grundprinzip von Volkssouveränität und parlamentarisch-demokratisch fundierter Herrschaft. Zwar hieß es, nach vier Jahren trete das Ermächtigungsgesetz außer Kraft, doch das konnte im Grunde von vorn herein als bedeutungslos erkannt werden. Hitler tönte drohend, man werde danach »Deutschland nicht wiedererkennen«.

Keine Stunde Null

Von »Selbstentmannung« der Parlamentarier, von »Selbstaufgabe«, von gutgläubiger Hoffnung des liberalen Bürgertums und einer lediglich unter ausuferndem Druck erfolgten Zustimmung der bürgerlichen Parteien ist seitdem in den meisten Geschichtsbüchern die Rede. Mitunter erscheint das Hitlersche Ermächtigungsgesetz, das am 24. März mit Hindenburgs Unterschrift in Kraft trat, als etwas völlig Neues, das zwar auf legalem Wege zustande gekommen sei, jedoch gleichsam eine »Stunde Null« deutscher Vergangenheit darstelle. In solcher Deutung bleiben die Vorgeschichte dieses Gesetzes wie die sich in ihm offenbarenden Interessen unterbelichtet oder ganz verborgen.

Hingegen muss an die Tatsache erinnert werden, dass bereits am 4. August 1914 der Reichstag einem »Gesetz über die Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen Maßnahmen und über die Verlängerung der Fristen des Wechsel- und Scheckrechts im Falle kriegerischer Ereignisse« zugestimmt hat. Es versetzte Bundesrat und Reichsleitung in die Lage, »kriegsnotwendige« wirtschaftliche Maßnahmen zu treffen und bot während des Krieges für mehr als 800 Anordnungen die entsprechende rechtliche Grundlage. Nach Auffassung des bekannten Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber kam dies dem »Durchbruch eines neuen verfassungspolitischen Prinzips von außerordentlicher Tragweite« gleich.

Die Verfassung der Weimarer Republik, am 14. August 1919 in Kraft getreten, war den konservativen, völkisch-rassistischen und faschistischen Kräften von Anfang an als ein Dorn im Auge. Und dies obwohl insbesondere der berühmt-berüchtigte Artikel 48 die Handhabe bot, Regierungen »ermächtigt« handeln zu lassen. Weimarer Kabinette machten davon zur »Behebung von Staatskrisen« und »Abhilfe wirtschaftlicher Schädigung« rege Gebrauch, insbesondere in den Jahren 1919 und 1923, in denen es sechs Ermächtigungsgesetze und 136 Notverordnungen gab. Allerdings: Alle Ermächtigungen galten in der Regel nur für bestimmte Fristen und unterlagen parlamentarischer Kontrolle.

Papens Stiefelabsatz

In den Jahren der großen Weltwirtschaftskrise dachten Mitglieder der Präsidialkabinette unter Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher intensiv und lautstark über die angebliche Notwendigkeit einer »Verfassungsreform« nach. Insbesondere die Gesetzgebungsrechte des Reichstages sollten weitgehend ausgeschaltet werden. Es brach sich Verachtung der Demokratie und des Prinzips der Volkssouveränität Bahn. Papen - Reichskanzler von Juli bis November 1932 - brachte dies mit den Worten zum Ausdruck, man müsse »dem Volke nur den Stiefelabsatz durch die Schnauze ziehen, dann pariert es schon«. Alle Argumente, die autoritäre bzw. ständestaatlich verbrämte Diktaturverhältnisse rechtfertigten sollten, hatten konservative Ideologen schon zuvor geliefert: Edgar Julius Jung beispielsweise, der 1927 mit einem viel gelesenen Buch gegen die »Herrschaft der Minderwertigen« in Erscheinung getreten war. Bezeichnend: Die radikalsten Pläne trug Papens Innenminister Freiherr von Gayl ausgerechnet am Verfassungstag des Jahres 1932 vor, ergänzt mit einer am 28. Oktober gehaltenen Rede. Eine Reichsreform sollte u. a. die föderale Rechte beschneiden und mehr Zentralismus bewirken sollte. Schließlich war es Alfred Hugenberg, Chef der Deutschnationalen Volkspartei und Hitlers Wirtschaftsminister, der in der ersten Sitzung des neuen Kabinetts am 30. Januar 1933 von der Möglichkeit eines neuen Ermächtigungsgesetzes sprach, sekundiert von Hermann Göring.

Den Führungsriegen der NSDAP galt die Weimarer Verfassung ohnehin nur als ein verdammenswertes Werk der »Novemberverbrecher«. Im Ringen um die Befestigung und den Ausbau ihrer Macht reichten ihnen dann jene 20 Notverordnungen nicht mehr aus, die zwischen dem 30. Januar und dem 23. März 1933 auf der Grundlage des Artikel 48 erlassen wurden. Konkret wurde das Ermächtigungsgesetz schon zwei Tage nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 vorbereitet. Reichsinnenminister Wilhelm Frick (der im November 1923 gegen die Weimarer Republik geputscht, also Hochverrat betrieben hatte) legte dem Kabinett am 15. März inhaltliche Schwerpunkte und am 20. März den Entwurf des »Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich« vor - ein Titel, der die der Vorläuferverordnungen vom 4. und 28. Februar nur unwesentlich variierte, aber wörtlich den des Ermächtigungsgesetzes vom 8. Dezember 1923 übernahm.

Bereits in der Vorbereitung des Ermächtigungsgesetzes von 1933 erwies sich die NSDAP als das, was sie war: eine faschistische Partei, die nun ihre Macht mit allen Mitteln zu befestigen gewillt war. Terroristisch ging sie gegen die 81 kommunistischen Mandatsträger vor. Deren parlamentarische Rechte wurden schlicht und einfach aufgehoben, was übrigens keine der anderen Parteien zu irgendeinem Protest veranlasste. Ebenso konnten 26 Abgeordnete der SPD an der entscheidenden Reichstagssitzung nicht teilnehmen, weil auch sie ihrer Freiheit beraubt worden oder untergetaucht waren, um einer Verhaftung zu entgehen. Als die Nazis erkannten, auf diese Weise eventuell nicht die Anwesenheit von zwei Dritteln der Abgeordneten zu erreichen, wurde kurzerhand die Geschäftsordnung des Reichstages geändert: Unentschuldigt fehlende oder ausgeschlossene Parlamentarier sollten als »anwesend« betrachtet werden. Die sogenannten Parteien der »Mitte« verweigerten sich dem nicht - ein Vorspiel zu ihrem beschämenden Verhalten in der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz.

Als die Reichstagsabgeordneten am 23. März in die Kroll-Oper einzogen, dem Ersatzort für das ausgebrannte Reichstaggebäude, sahen sie sich von uniformierten SA- und SS-Schlägern bedroht. Auch Hitler erschien zu seinem Auftritt in brauner Kluft. An der Stirnwand des Sitzungssaales prangte eine überdimensionierte Hakenkreuzfahne.

Gottes Wille?

444 »Ja«-Stimmen besiegelten das Aus der Weimarer Verfassung, erteilt von 288 Nazis und 156 Abgeordneten der sieben anderen bürgerlichen Parteien: 72 des Zentrums, 53 der Deutschnationalen Volkspartei, 19 der Bayerischen Volkspartei, fünf der Deutschen Staatspartei, vier des Christlich-sozialen Volksdienstes, zwei der Deutschen Bauernpartei und eine der Deutschen Volkspartei. Keiner von ihnen wollte sich dem als »national« und »antimarxistisch« gepriesenen Anliegen der Hitler-Regierung verschließen. Allein die 94 Sozialdemokraten stimmten mit »Nein«, was Otto Wels in einer bemerkenswerten Rede begründete, in der er aber die Außenpolitik Hitlers ausdrücklich als unterstützenswert bezeichnete.

Einer christdemokratischen Zustimmung konnten sich die Nazis durchaus sicher sein, war doch bereits vor den Reichstagswahlen vom Fraktionsgeschäftsführer des Zentrums im Preußischen Landtag signalisiert worden, man sei zur Mitarbeit bereit, würde die Regierung »Personalveränderungen« unterlassen. Was einem Kuhhandel glich. Im Hintergrund spielte wohl auch die Aussicht auf ein Konkordat mit dem Vatikan eine Rolle. In beiden Parteien jedenfalls setzte sich die vom konservativen Prälaten Ludwig Kaas geführte Mehrheit durch. Gerichtet an die Adresse von etwa einem Dutzend Fraktionsmitglieder, die in den Debatten vor der Abstimmung vor einem »Ja« warnten, erklärte dieser, »wir müssen Gottes Willen tun und Gottes Willen erfüllen. Das Vaterland ist in höchster Gefahr, wir dürfen nicht versagen.« Dem Fraktionszwang fügten sich schließlich alle, trotz jener Bedenken und Missfallensäußerungen, die in heutiger Literatur gern hervorgehoben werden, jedoch den Eindruck einer geschichtlich folgenreichen Fehlentscheidung nicht übertünchen können.

Der Faschismusforscher Professor Manfred Weißbecker lebt in Jena.

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